Aktuell: Heftige Kämpfe in Sjewjerodonezk
12. Juni 2022
Das Wichtigste in Kürze:
- Heftige Kämpfe in der ostukrainischen Großstadt Sjewjerodonezk
- Pressebericht: Kanzler Scholz plant baldige Reise nach Kiew
- Rheinmetall: Modernisierte "Marder" fertig zur Auslieferung
- NATO-Generalsekretär besucht Finnland und Schweden
- Lehrerverband sieht Mängel bei Integration von Flüchtlingskindern
Im Osten der Ukraine dauert nach dem Angriff russischer Truppen der Kampf um die Großstadt Sjewjerodonezk im Gebiet Luhansk an. Die Lage dort sei die schlimmste im ganzen Land, sagte der Gouverneur des Gebiets Luhansk, Serhij Hajdaj, in einer Videoansprache. "Es ist unmöglich, den Beschuss zu zählen." Die heftigen Straßengefechte in der Industreistadt gingen unvermindert weiter. "Niemand kann sagen, ob und wieviel Opfer es in den letzten 24 Stunden in Sjewjerodonezk gab", so der Gouverneur
Viele Ortschaften in der Region stünden unter Feuer, sagte Hajdaj. Besonders schwierig sei die Situation in dem Ort Toschkiwka südlich des Verwaltungszentrums Sjewjerodonezk. Dort versuchten die russischen Angreifer eine Verteidigungslinie zu durchbrechen. Teils hätten es die ukrainischen Streitkräfte geschafft, den Feind aufzuhalten.
Chemiefabrik Azot im Fokus der Kämpfe
In Sjewjerodonezk wurde die Chemiefabrik Azot beschossen, wie Hajdaj sagte. Zuvor hatten die prorussischen Separatisten mitgeteilt, Zivilisten, die in den Bunkern der Industrieanlage Schutz gesucht hatten, hätten das Werksgelände verlassen. Hajdaj zufolge haben viele Menschen sich in Schutzbunker begeben, weil russische Truppen gezielt Wohnviertel mit schwerer Artillerie beschießen. "Wahrscheinlich wollen alle jetzt fliehen, aber eine solche Möglichkeit gibt es aktuell nicht", sagte Hajdaj.
Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs in Kiew sind bei den anhaltend schweren Kämpfen im Donbass die russischen Truppen im Bereich des wichtigen Verkehrsknotenpunkts Bachmut zurückgedrängt worden. Es seien bis zu 150 Angreifer "vernichtet" worden. Von unabhängiger Seite überprüfen ließen sich diese Angaben nicht.
Russischer Angriff in der Westukraine
Die russische Armee hat nach eigenen Angaben in der Westukraine ein Waffendepot zerstört, in dem aus dem Westen gelieferte Waffen gelagert gewesen sein sollen. Die "große Lagerstätte mit Panzerabwehrraketen, tragbaren Luftabwehrsystemen und Granaten" nahe der Stadt Tschortkiw sei mit Kalibr-Marschflugkörpern angegriffen worden, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Diese seien vom Meer aus abgefeuert worden, Die Ukraine meldete 22 Verletzte durch den russischen Angriff in Tschortkiw, darunter ein zwölfjähriges Kind.
Deutschland will beim Getreide-Export aus der Ukraine helfen
Die Bundesregierung will zügig Getreide aus der Ukraine über den Landweg in die Europäische Union bringen und sagt für die Transporte finanzielle Mittel zu. "Wir arbeiten mit Hochdruck daran, dass das Getreide aus der Ukraine über die Schiene abtransportiert werden kann, um so weltweite Hungersnöte zu verhindern", sagte der Schienenbeauftragte der Bundesregierung, Michael Theurer. Nach seinen Angaben soll angesichts knapper Waggons ein Fonds aufgelegt werden, um neue Behälter für Getreide zu beschaffen. "Im optimistischen Fall können zehn von 23 Millionen Tonnen abtransportiert werden", sagte der FDP-Politiker dem "Handelsblatt". Zudem kündigte er Bürgschaften für gefährliche Transporte an. So könne das Risiko, durch Kriegseinwirkungen Züge zu verlieren, gemindert werden. Die sogenannte Getreidebrücke sei "in vollem Gange" und werde von den unterschiedlichen Ressorts der Bundesregierung in Abstimmung mit der Europäischen Kommission organisiert.
Vier Millionen Einreisen nach Polen
Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine hat der polnische Grenzschutz vier Millionen Einreisen aus dem Nachbarland registriert. Am Samstag kamen 24.900 Menschen über die Grenze nach Polen, wie die Behörde mitteilte.
In die umgekehrte Richtung überquerten am Samstag 28.000 Menschen die Grenze aus Polen in die Ukraine. Dabei handelte es sich nach Angaben der Behörden zum Großteil um ukrainische Staatsbürger. Sie reisen meist in Gebiete, die die ukrainische Armee zurückerobert hat. Es gibt keine offiziellen Angaben, wie viele der Kriegsflüchtlinge in Polen geblieben und wie viele in andere EU-Staaten weitergereist sind.
Olaf Scholz bald in Kiew?
Bundeskanzler Olaf Scholz will angeblich noch vor dem G7-Gipfel Ende Juni in die ukrainische Hauptstadt Kiew reisen, wie die meist gut informierte Zeitung "Bild am Sonntag" (BamS) erfuhr. Er plane den Besuch gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem italienischen Regierungschef Mario Draghi, berichtet das Blatt unter Berufung auf französische und ukrainische Regierungskreise. Scholz, Macron und Draghi wollten damit ein Zeichen der europäischen Einigkeit setzen, heißt es.
Ein Sprecher der Bundesregierung in Berlin wollte den Bericht bisher "nicht bestätigen". Scholz hatte zuletzt erklärt, er würde nur in die Ukraine reisen, wenn konkrete Dinge zu besprechen wären. Der Kanzler war - anders als viele andere europäische Spitzenpolitiker - seit Beginn des Ukraine-Kriegs nicht in Kiew, was für internationale Kritik sorgte. Hintergrund ist unter anderem eine Kontroverse um eine Ausladung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier durch die ukrainische Regierung. Dieser Konflikt wurde inzwischen aber ausgeräumt.
Die Ukraine hofft darauf, dass die Europäische Union sie bei ihrem Gipfeltreffen am 23. und 24. Juni - unmittelbar vor dem G7-Gipfel vom 26. bis 28. Juni - zum EU-Beitrittskandidaten erklärt. Die EU-Kommission will dazu in der kommenden Woche ihre Empfehlung abgeben. Deswegen reiste auch Kommissionschefin Ursula von der Leyen an diesem Wochenende bereits zum zweiten Mal seit Kriegsbeginn nach Kiew, wo sie den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj traf.
Selenskyj warb nochmals für den EU-Beitritt seines Landes. Er sei überzeugt, dass mit der Entscheidung über einen Kandidatenstatus für die Ukraine auch die Europäische Union gestärkt werden könne, sagte er in einer neuen Videoansprache. Teils vorhandene Widerstände gegen die Beitrittspläne kritisierte Selenskyj. "Was muss noch in Europa passieren, damit den Skeptikern klar wird, dass es Europa schadet, wenn man die Ukraine außerhalb der Europäischen Union hält?", fragte der Staatschef.
Rheinmetall hat "Marder" auf Lager
Mehrere von der Bundeswehr ausgemusterte Schützenpanzer vom Typ "Marder" sind nach Angaben des Herstellers Rheinmetall einsatzbereit und könnten sofort in die Ukraine geliefert werden. "Wir sind dabei, 100 Marder-Schützenpanzer instandzusetzen, erste Fahrzeuge sind bereits so weit", sagte Armin Papperger, Vorstandsvorsitzender von Rheinmetall, der "Bild am Sonntag". "Wann und wohin die Marder geliefert werden, ist die Entscheidung der Bundesregierung."
Aufgrund der hohen Nachfrage nach militärischer Ausrüstung will Rheinmetall die Kapazitäten erhöhen. "Wir rechnen mit deutlich steigenden Umsätzen in der Größenordnung von bis zu 20 Prozent im Jahr und sind nun dabei, unsere Kapazitäten hochzufahren", erklärte Papperger. "Wir werden an manchen Standorten in Mehrschichtbetrieb gehen. Die Produktion von Munition können wir innerhalb der nächsten zwölf Monate mindestens verdreifachen, die der LKW lässt sich verdoppeln - weil wir vieles an Infrastruktur aus dem Kalten Krieg recht schnell reaktivieren können."
Stoltenberg: Einwände der Türkei ernst nehmen
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat Verständnis geäußert für die Einwände der Türkei gegen eine Aufnahme von Schweden und Finnland in das Verteidigungsbündnis. Die Bedenken der Türkei, die so viele Terroranschläge wie kein anderes NATO-Mitglied erlitten habe, müssten ernst genommen werden, sagt Stoltenberg nach einem Gespräch mit dem finnischen Präsidenten Sauli Niinistö in Helsinki. Die Türkei wirft Finnland und Schweden vor, Menschen mit Verbindungen zu terroristischen Gruppen zu beherbergen. Genannt wurden in diesem Zusammenhang die kurdische Arbeiterpartei PKK und Anhänger des Predigers Fethullah Gülen.
Die türkische Position habe Finnland überrascht, doch in der internationalen Politik sei es wichtig, ernst zu nehmen, was sein Gegenüber zu sagen habe, sagte Niinistö. Das werde man im Dialog mit Ankara tun. Stoltenberg besucht derzeit die nordischen Länder Finnland und Schweden, die im Mai unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ihren Beitritt zu dem Militärbündnis beantragt hatten. Am Montag will Stoltenberg mit der schwedischen Regierungschefin Magdalena Andersson beraten. Der Aufnahme eines Staates in die NATO müssen alle 30 Mitgliedsländer zustimmen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan droht allerdings mit einem Veto.
Russland ignoriert Menschenrechtsgerichtshof
Die russische Führung will sich nicht mehr an Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) halten. Präsident Wladimir Putin habe ein entsprechendes Gesetz unterzeichnet, meldete die Agentur Tass. Demnach werden Urteile, die nach dem 15. März ergangen sind, nicht mehr ausgeführt.
Der EGMR gehört zum Europarat. Dieser hatte Russlands Mitgliedschaft am 25. Februar in Folge des Angriffs auf die Ukraine zunächst suspendiert. Nachdem der Kreml am 15. März seinen Austritt erklärt hatte, wurde Russland endgültig aus dem Gremium ausgeschlossen.
"Abhängig von lokalen Zufälligkeiten"
Der Deutsche Lehrerverband fordert ein Langfristkonzept für die Integration geflüchteter Kinder und Jugendlicher aus der Ukraine. Für diese Aufgabe sei "ein massives Unterstützungspaket" des Bundes nötig, sagte Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Die Integration ukrainischer Flüchtlingskinder an deutschen Schulen sei eine nationale Herausforderung.
Bisher sei die Aufnahme der inzwischen über 130.000 ukrainischen Kinder und Jugendlichen "immer noch weitgehend abhängig von lokalen Gegeben- und Zufälligkeiten", so Meidinger. Es hänge oft ausschließlich von der Situation vor Ort ab, ob ein Kind in eine Regelklasse oder in eine eigene Willkommensklasse komme und in welchem Umfang deutscher Sprachunterricht erteilt werde. Genauso sei es mit der Frage, ob zusätzliche personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung stünden. "Das sind äußerst schlechte Voraussetzungen dafür, den Kindern, die in Deutschland länger bleiben werden, eine dauerhafte Integrationsperspektive zu geben."
kle/uh/wa/ack (dpa, afp, rtr, kna)
Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.