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Konflikte

Aktuell: Jubel in Cherson, Banksy in Kiew

12. November 2022

Nach dem Rückzug aus Cherson jubeln viele Ukrainer. Russland verhängt Einreiseverbote. Die IAEA prüft eine Atomanlage. Kanzler Scholz sagt Hilfe zu. Street-Art-Künstler Banksy war offenbar in Kiew. Ein Überblick.

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Ukraine, Kiew | Freude darüber das Cherson wieder unter ukrainischer Kontrolle ist
Jubel in Kiew über den Rückzug der russischen Truppen aus der Stadt ChersonBild: Genya Savilov/AFP/Getty Images

 

Das Wichtigste in Kürze:

  • Bürger in Cherson begrüßen ukrainische Truppen
  • Atomforschungsanlage von Charkiw "stark beschädigt"
  • Russische Besatzer räumen ukrainische Staudamm-Stadt Nowa Kachowka
  • Bundesagrarminister empfiehlt Ausbau von Transportwegen in die Ukraine
  • Banksy-Graffito auf ukrainischen Ruinen

 

Nach dem Abzug der russischen Truppen aus der südukrainischen Gebietshauptstadt Cherson sind sowohl dort als auch in der ukrainischen Hauptstadt Kiew Tausende Menschen jubelnd auf die Straßen gegangen. Mit Flaggen und Hupkonzerten feierten sie bis in die Nacht das Ende der russischen Besatzung.

Rückkehr nach Cherson

Im Zentrum von Cherson wurden am Freitag die ersten ukrainischen Soldaten euphorisch mit Umarmungen und Beifall begrüßt, wie auf Fotos und Videos in sozialen Netzwerken zu sehen ist. Einige Menschen weinten vor Freude.

Weniger euphorische Einwohner befürchteten dagegen, dass die russischen Truppen von der anderen Seite des Flusses Dnipro, wohin sie sich zurückgezogen haben, die Stadt weiter bombardieren könnten.

Russisches Verwaltungszentrum nun in Henitschesk 

Nach dem Rückzug aus Cherson haben die russischen Besatzer ihr regionales Verwaltungszentrum auf den noch von ihnen kontrollierten Teil des gleichnamigen Gebiets verlegt. Ein großer Teil der russischen Administration sei bereits in die Stadt Henitschesk umgesiedelt worden, meldeten Russlands staatliche Nachrichtenagenturen unter Berufung auf die Besatzungsverwaltung. Henitschesk liegt ganz im Südosten von Cherson am Asowschen Meer und nur wenige Dutzend Kilometer von der Schwarzmeer-Halbinsel Krim entfernt, die Moskau bereits 2014 annektiert hatte.

Atomforschungsanlage "stark beschädigt"

Wie die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) auf ihrer Internetseite bekanntgab, waren drei ihrer Sicherheitsexperten in dieser Woche drei Tage lang im Technologie-Institut von Charkiw (KIPT), um die Atomforschungsanlage auf Schäden zu überprüfen. IAEA-Chef Rafael Grossi zeigte sich bei der Vorstellung der Ergebnisse erschüttert: "Der Grad der Zerstörung an den Gebäuden der Einrichtung ist dramatisch und schockierend, viel schlimmer, als wir es erwartet hatten."

Demnach wurde das KIPT allein in den ersten drei Wochen nach der russischen Invasion mehr als 100-mal von Raketen, Granaten und anderen Geschossen getroffen und war mehr als einen Monat lang ohne Elektrizität und Wasserversorgung. Nahezu alle Gebäude sind beschädigt worden, viele davon so schwer, dass sie vermutlich nicht mehr repariert werden können.

Allerdings konnten die Experten auch eine gute Nachricht überbringen: Bei den Messungen vor Ort und den Kontrollen der Anlage hätten sie festgestellt, dass es keine erhöhte radioaktive Strahlung gebe. Außerdem habe die Inventur vor Ort ergeben, dass offenbar auch kein radioaktives Material abhandengekommen sei.

Russische Besatzer räumen ukrainische Staudamm-Stadt Nowa Kachowka

Nach dem Truppenrückzug vom rechten Ufer des Flusses Dnipro in der südukrainischen Region Cherson haben die russischen Besatzer nun auch eine Evakuierung der Staudamm-Stadt Nowa Kachowka auf der anderen Flussseite angekündigt. Die Verwaltung von Kachowka ziehe sich zusammen mit den Bürgern der Stadt an einen sicheren Ort zurück, teilte der örtliche Besatzungschef Pawel Filiptschuk in einer Rede an die Bevölkerung mit. Er rief die Menschen in einer festgelegten Zone von 15 Kilometern auf, ihre Wohnungen zu verlassen, wie die staatliche russische Nachrichtenagentur TASS meldet.

Ukraine-Krieg - Nowa Kachowka
Im Oktober bewachten russische Soldaten noch den Eingang zum Wasserkraftwerk KachowkaBild: AP/dpa/picture alliance

Befürchtet wird, dass der Staudamm durch Beschuss zerstört und das Gebiet überflutet werden könnte. Russen und Ukrainer werfen sich seit Wochen gegenseitig vor, eine solche Provokation zu planen. Die ukrainischen Streitkräfte hätten die Verwaltung von Kachowka als Ziel "Nummer eins für einen Terroranschlag" in der Region ausgemacht, erklärte Filiptschuk. Die Ukraine weist Sabotageabsichten zurück.

Örtlichen Berichten zufolge waren die ukrainischen Einheiten bereits in die Kleinstadt Beryslaw unweit des Staudamms vorgerückt. Russland hatte am Freitag den angekündigten Rückzug vom westlichen Ufer des Flusses Dnipro für abgeschlossen erklärt. Demnach zogen sich die russischen Soldaten auf das Gebiet östlich des Flusses zurück. Die Regierung in Kiew will das gesamte Gebiet Cherson und alle besetzten Regionen befreien.

Blinken sichert Kuleba weitere Unterstützung zu

Die USA haben der Ukraine im Krieg mit Russland dauerhafte Unterstützung zugesagt. Bei einem Treffen mit seinem ukrainischen Amtskollegen Dmytro Kuleba am Rande des ASEAN-Gipfels in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh sagte US-Außenminister Antony Blinken, die Erfolge um Cherson seien ein weiteres Zeugnis für den bemerkenswerten Mut der Streitkräfte und des ukrainischen Volkes wie auch für die starke Unterstützung durch die USA und die Welt. Die sicherheitstechnische, humanitäre und wirtschaftliche Hilfe werde "so lange wie nötig" fortgesetzt.

Die Außenminister der USA und der Ukraine, Antony Blinken (l.) und Dmytro Kuleba bei ihrem Treffen in Phnom Penh
Die Außenminister der USA und der Ukraine, Antony Blinken (l.) und Dmytro Kuleba bei ihrem Treffen in Phnom PenhBild: Cindy Liu/AP/picture alliance

Blinken übte zugleich scharfe Kritik an Russland, das die Ukraine weiter "brutal" behandele - besonders mit seiner gezielten Kampagne, um die Energieinfrastruktur zu zerstören - "alles, was notwendig ist, um Licht zu haben, Menschen im Winter warmzuhalten". Die Angriffe hätten schreckliche Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung überall in der Ukraine.

Kuleba dankte für die Unterstützung. Bei seinen Gesprächen in Asien gehe es auch darum, andere Länder auf die Seite des Völkerrechts und einiger fundamentaler Grundsätze zu ziehen. Die russische Aggression richte sich nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen eben diese Prinzipien, auf denen die Welt aufgebaut sei, so der ukrainische Außenminister weiter.  

Kanzler Scholz sieht drei Aufgaben

Nach Ansicht von Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz steht die Welt bei der Hilfe für die Ukraine vor drei vorrangigen Aufgaben: Zunächst müsse man dafür sorgen, dass ukrainische Städte vor russischen Angriffen geschützt werden könnten, sagte Scholz dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Dabei lobte er die Effizienz des von Deutschland bereitgestellten Luftabwehrsystems Iris-T, an dem mittlerweile aus aller Welt Interesse bestehe, wobei die Bundeswehr das System noch nicht einmal selbst eingesetzt habe.

Deutschland, Leipzig | Bundeskanzler Scholz bei LVZ-Leserforum
Bundeskanzler Olaf Scholz skizziert die Aufgaben, vor denen die Ukraine-Hilfe weltweit stehtBild: Sebastian Willnow/dpa/picture alliance

Zweitens müsse man die zerstörte Infrastruktur schnell reparieren. Und drittens müsse man sich vorbereiten, um weitere Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen zu können, so der Kanzler.

Telefonat mit Selenskyj

Einem deutschen Regierungssprecher zufolge hat Bundeskanzler Scholz am Freitag mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj telefoniert. Beide hätten sich im Vorfeld des G20-Gipfels über die militärische, politische und humanitäre Lage in der Ukraine ausgetauscht.

"Der Bundeskanzler und der ukrainische Präsident verurteilten den anhaltenden gezielten Beschuss ziviler Infrastruktur in der Ukraine durch die russischen Streitkräfte und besprachen konkrete Maßnahmen zur Stärkung der ukrainischen Energieinfrastruktur." Scholz habe weitere Unterstützung zugesagt, vor allem in den Bereichen Energieinfrastruktur und Luftverteidigung.

Bundesagrarminister empfiehlt Ausbau von Transportwegen in die Ukraine

Bundesagrarminister Cem Özdemir hat Pläne der Europäischen Union gelobt, gemeinsam mit Partnern eine weitere Milliarde Euro in Verkehrswege in die Ukraine zu investieren. "Diese Alternativrouten sind echte Lebensadern: Die Agrarexporte sichern der Ukraine wichtige Einnahmen, beruhigen die Weltmärkte für Getreide und machen so weltweit Millionen Hungernde satt", sagte der Grünen-Politiker der Deutschen Presse-Agentur.

Er und sein ukrainischer Kollege Mykola Solskyj suchten nach einer Lösung, wie Getreide gezielt Staaten zugutekommen könne, in denen der Hunger besonders groß sei. Vor dem Angriff Russlands hatte die Ukraine vor allem über ihre Schwarzmeerhäfen Handel betrieben. Diese können nur noch für ausgewählte Agrarprodukte genutzt werden, weil es für andere Transporte keine Sicherheitsgarantien gibt.

Die am Freitag bekanntgegebenen Investitionen sollen helfen, den Land- und Binnenschiffsverkehr zwischen der Ukraine und den Nachbarländern Polen, Rumänien, Moldau, Slowakei und Ungarn auszubauen. Özdemir sagte, man müsse auch in Zukunft damit rechnen, dass Russland das Getreideabkommen als Druckmittel einsetze. Der russische Präsident Wladimir Putin habe eine Annäherung der Ukraine an Europa verhindern wollen und das Gegenteil erreicht. "Mit den Solidaritätskorridoren wachsen Europa und die Ukraine immer weiter zusammen."

Russland hatte die Fortsetzung des Getreideabkommens infrage gestellt, mit dem ukrainische Exporte durch das Schwarze Meer möglich wurden. Russland hatte die Exporte seit Beginn seines Angriffskriegs gegen das Nachbarland im Februar blockiert. Das im Juli geschlossene Abkommen läuft am 19. November aus. Vor dem Krieg kamen aus Russland und der Ukraine fast ein Viertel der weltweiten Getreideexporte.

Getreideabkommen mit Russland vor dem Aus?

Die Vereinten Nationen haben die Staatengemeinschaft aufgerufen, Hindernisse für den Export von Düngemitteln aus Russland aus dem Weg zu räumen. "Die Welt kann es sich nicht leisten, dass die weltweiten Probleme bei der Verfügbarkeit von Düngemitteln zu einer weltweiten Nahrungsmittelknappheit führen", teilten die Vereinten Nationen nach Gesprächen mit dem russischen Vizeaußenminister Sergej Werschinin und seiner Delegation in Genf mit. Russland hatte die Fortsetzung des Getreideabkommens infrage gestellt, mit dem ukrainische Exporte durch das Schwarze Meer möglich wurden.

Düngemittel-Hersteller Uralchem
Düngemittel der russischen Firma Uralchem werden zum Abtransport vorbereitet (Archiv)Bild: Uralchem

Das sogenannte Juli-Abkommen, das unter der Vermittlung der UN und der Türkei zustande kam, bestand aus zwei Vereinbarungen. Neben den ukrainischen Exporten ging es auch darum, dass russische Lebens- und Düngemittel trotz westlicher Sanktionen exportiert werden können. Das stellte sich aber als schwierig heraus: Zwar zielen die Sanktionen nicht direkt auf diese Exporte, ihre Existenz macht es russischen Akteuren aber schwer, europäische Häfen anzulaufen, Zahlungen abzuwickeln und Versicherungen für ihre Schiffe zu bekommen.

Russland hatte die Exporte seit Beginn seines Angriffskriegs gegen das Nachbarland im Februar blockiert. Das im Juli geschlossene Abkommen läuft am 19. November aus. Vor dem Krieg kamen fast ein Viertel der weltweiten Getreideexporte aus Russland und der Ukraine.

Sollte das Abkommen nicht verlängert werden, habe das schwere Konsequenzen, warnte der Direktor der Abteilung Märkte und Handel bei der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO), Boubaker Benbelhassen. Dann dürften die Preise wieder steigen und die Belieferung vieler Länder, die auf die Versorgung angewiesen seien, ins Stocken geraten, sagte er in Genf.

Nach Angaben des Koordinierungszentrums des Getreideabkommens haben Stand 11. November 489 Schiffe ukrainische Häfen unter anderem mit Weizen, Mais, Sonnenblumenöl und Sojabohnen an Bord verlassen. Allein seit dem 1. November waren es mehr als 20 Schiffe, die unter anderem in den Libanon, nach Marokko, Libyen, Spanien, Rumänien und China fuhren. Am Freitagvormittag legten nach den Angaben vier Schiffe ab.

Ukraine sichert Grenze zu Belarus

Die Ukraine baut nach eigenen Angaben eine Betonwand und Sperranlagen entlang der mehr als 1000 Kilometer langen Grenze zum russischen Verbündeten Belarus. In der Region Wolyn sei ein drei Kilometer langer, mit Stacheldraht bewehrter Wall errichtet worden, gab Präsidialberater Kyrylo Tymoschenko bekannt.

Auch in den Regionen Riwne und Tschytomyr werde gearbeitet. Einzelheiten nannte er nicht. "Das ist nicht alles, aber wir werden keine Einzelheiten veröffentlichen."

Russland verhängt Einreiseverbote

Die Regierung in Moskau hat Einreiseverbote gegen 200 weitere US-Bürger verhängt, darunter die Geschwister von US-Präsident Joe Biden und mehrere Senatoren. Das Außenministerium in Moskau teilte mit, unter den 200 Betroffenen seien Regierungsvertreter und Abgeordnete, ihre engen Angehörigen, Unternehmenschefs und Experten, "die an der Förderung der russlandfeindlichen Kampagne und der Unterstützung des Regimes in Kiew beteiligt" seien.

Ukraine Krieg | Präsident Selenskyj  empfängt Sean Penn
Regisseur und Schauspieler Sean Penn (re.) mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj (08.11.2022)Bild: Pressebüro des ukrainischen Präsidenten/AP/dpa/picture alliance

Auf der schwarzen Liste stehen demnach Bidens Schwester Valerie und seine Brüder James und Francis, außerdem die Sprecherin des Weißen Hauses, Karine Jean-Pierre, sowie die US-Senatoren Bernie Sanders und Elizabeth Warren. Auch die US-Autorin und Russland-Expertin Anne Applebaum, Politico-Chefredakteur Matthew Kaminski und Paul Pelosi, Ehemann der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, wurden mit einem Einreiseverbot belegt.

Als Reaktion auf die russische Militäroffensive in der Ukraine haben die Regierung in Washington und andere westliche Staaten beispiellose Sanktionen gegen Russland verhängt. Im Gegenzug hat Russland bereits mehr als 1000 US-Bürgern die Einreise untersagt, darunter sind auch die Hollywood-Stars Ben Stiller und Sean Penn.

Banksy-Werk auf ukrainischen Ruinen

Der britische Street-Art-Künstler Banksy hat sich mutmaßlich in der Ukraine verewigt. Auf seinem Instagram-Kanal veröffentlichte Banksy am Freitagabend Bilder eines Werks auf den Mauern eines zerstörten Hauses. Die Aufnahmen sollen in der stark verwüsteten Stadt Borodjanka in der Nähe von Kiew entstanden sein. Das Werk zeigt auf der grauen Wand eines kriegszerstörten Hauses ein Mädchen, das scheinbar auf Trümmern einen Handstand macht.

Die Veröffentlichung auf seinem Instagram-Kanal gilt traditionell als Zeichen, dass Banksy ein Werk als seines bestätigt. Auch in der Vergangenheit ist der berühmte Street-Art-Künstler bereits in Krisengebieten unterwegs gewesen, unter anderem im Westjordanland. Banksys Identität ist nach wie vor unbekannt.

mak/AR/sti/se/kle (dpa, rtr, afp, iaea.org)

Dieser Artikel wird am Tag seines Erscheinens fortlaufend aktualisiert. Meldungen aus den Kampfgebieten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Ukraine aktuell vom 11.11.2022: Cherson wieder unter ukrainischer Kontrolle