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Russische Staatsbürgerschaft: Der "toxische" Pass

16. Februar 2024

Ein russischer Pass verpflichtet zum Militärdienst. Sicher einer der Gründe dafür, warum 2023 sind so wenige Menschen wie seit zehn Jahren nicht mehr nach Russland übergesiedelt sind.

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Eine Frauenhand hält einen russischen Pass
Pass der Russischen FöderationBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

Zwei Jahre nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine hat das Interesse an einer russischen Staatsbürgerschaft stark abgenommen. Das geht aus der Statistik des Innenministeriums in Moskau hervor. Im Jahr 2023 beantragten demnach 63.600 Menschen den russischen Pass, 55.400 Anträge wurden genehmigt. Das ist fast die Hälfte weniger als noch 2022 - und viermal weniger als 2015.

Zurück zur lettischen Staatsbürgerschaft

Der 40-jährige Denis (Name geändert) wurde in der lettischen Stadt Liepaja an der Ostseeküste geboren. Dort wuchs er auch auf. 1994 zog seine Familie ins russische Weliki Nowgorod, wo er zusätzlich die russische Staatsbürgerschaft erhielt. Doch 2012 musste sich Denis entscheiden, weil die doppelte Staatsbürgerschaft in Lettland seitdem nur noch möglich ist, wenn es um EU- und NATO-Länder geht. Er gab der russischen den Vorzug. "Damals war ich komplett nach Nowgorod gezogen, besuchte aber wegen meiner Freunde immer wieder Lettland. Damals wusste ich nicht, wohin sich Russland entwickeln würde", sagt er.

Im Februar 2022 überfiel Russland die Ukraine, woraufhin Denis seine Sachen packte und nach Lettland fuhr. Dort wollte er das lettische Repatriierungsprogramm nutzen, denn sein Großvater war Lette. Heute ist Denis fest entschlossen, seinen russischen Pass abzugeben. Bis es soweit ist, taucht er in den Statistiken der Russischen Föderation noch nicht auf.

Ausgleich für Kampfverluste in der Ukraine

"Civil Assistance" (dt.:"Bürgerunterstützung") ist eine Nichtregierungsorganisation in Russland, die sich für Flüchtlinge und Vertriebene einsetzt. Sie weist darauf hin, dass die Behörden im vergangenen Jahr die Erlangung der russischen Staatsbürgerschaft erheblich vereinfacht haben. Das zieht aber eine automatische Meldung beim Militär und dessen Einberufungsämtern nach sich.

Eine Frau und ein Mann überqueren mit Gepäck die russisch-estnische Grenze
An der Grenze zwischen Russland und Estland (August 2022)Bild: Peter Kovalev/TASS/dpa/picture alliance

Für "Civil Assistance" könnte das der Grund sein, warum das Interesse an einem russischen Pass sinkt. "Die aktuelle politische, wirtschaftliche und soziale Situation in der Russischen Föderation macht die russische Staatsbürgerschaft zu einer toxischen, wie man in der Finanzwelt sagen würde", so die NGO in ihrem Bericht.

Durch die Vereinfachung der Einbürgerung wollen die russischen Behörden, so vermuten die Aktivisten, den Rückgang der russischen Bevölkerung aufgrund des Krieges in der Ukraine und der Mobilmachung ausgleichen. Nach Angaben des US-Militärgeheimdienstes belaufen sich die russischen Verluste inzwischen auf 315.000 Verwundete und Tote.

Russland spürt den Aderlass

Während der Mobilmachung haben mindestens 600.000 Menschen Russland verlassen. Darauf weist der unabhängige Demografie-Experte Alexej Rakscha hin. Dies sei ein erheblicher Verlust, wenn man bedenke, dass vor allem Menschen mit guter Bildung und besserem Einkommen abgewandert seien, meint er. Aber quantitativ habe Russland nicht an Bevölkerung verloren. Schließlich seien etwa drei Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine ins Land gekommen, sagt Rakscha. Die russischen Behörden sprechen sogar von fünf Millionen Menschen.

Im Jahr 2022 hätten 691.045 Menschen die russische Staatsbürgerschaft angenommen, meldete das zuständige Innenministerium. Fast die Hälfte von ihnen sind demnach Staatsbürger der Ukraine, die infolge der Besatzung "automatisch" russische Pässe bekamen.

Arbeitsmigranten aus Zentralasien

Spitzenreiter bei der Zahl der freiwilligen Anträge auf die russische Staatsbürgerschaft sind Tadschikistan und Kasachstan: 25.500 Menschen entschieden sich im vergangenen Jahr für den Umzug aus diesen beiden Ländern nach Russland. Vor zwei Jahren waren es aber noch deutlich mehr. Laut "Civil Assistance" nimmt auch dort die Nachfrage nach einem russischen Pass ab, unter den Bürgern Tadschikistans jedoch langsamer als in Kasachstan.

Ukrainische Flüchtlinge sitzen auf Stühlen im südrussischen Anapa (Oktober 2022)
Ukrainische Flüchtlinge im südrussischen Anapa (Oktober 2022)Bild: AP/dpa/picture alliance

Warum riskieren diese Menschen, für Russland in den Krieg ziehen zu müssen? Es sei der große Unterschied beim Lebensstandard, sagt Walentina Tschupik, Menschenrechtlerin und Anwältin für Migranten: "Sie kommen aus Dörfern und sterbenden Kleinstädten, wo es praktisch keine Arbeit gibt." Vor allem Arbeitsmigranten aus Tadschikistan wollten die russische Staatsbürgerschaft und damit mehr Rechte in Russland haben. "Viele von ihnen glauben, der Krieg werde sie nicht betreffen, und sie kämen um die Einberufungsämter herum, wenn sie bei der Erlangung der Staatsbürgerschaft keine dauerhafte Meldeadresse angeben", sagt Tschupik. Einige russische Regionen stellen Migranten jedoch keinen Pass mehr aus, solange sie keinen Vertrag mit der Armee über die Teilnahme am Krieg unterzeichnet haben.

Wie steht es ums russische Umsiedlungsprogramm?

Seit 2004 gibt es ein "Programm zur Umsiedlung von Landsleuten nach Russland". Es sollte den demografischen Rückgang der Bevölkerung ausgleichen und den Personalmangel in den Regionen beheben. Von den Umsiedlern wird verlangt, dass sie Russisch sprechen, "in den Traditionen der russischen Kultur aufgewachsen sind und den Wunsch haben, die Verbundenheit mit Russland zu bewahren".

Von der Antragstellung bis zum Erhalt der Staatsbürgerschaft können sechs Jahre vergehen. Zuerst muss eine Aufenthaltserlaubnis eingeholt werden, mit der man dann mindestens fünf Jahre in Russland leben muss. Drei Jahre davon in einer Region, in die man von den Behörden geschickt wurde.

Zwei Männer beim Sprachtest in Russland
Russisch-Sprachtest für Migranten aus Zentralasien (Archivfoto)Bild: Egor Winogravow

Aber im vergangenen Jahr änderte fast jeder Zweite seine Absicht, das Umsiedlungsprogramm durchzuziehen, wie "Civil Assistance" feststellt. Die Differenz zwischen den Teilnehmenden an dem Programm und denjenigen, die sich letztendlich beim Innenministerium angemeldet haben, sei noch nie so groß gewesen. "Selbst wenn sie sich ursprünglich für das Programm entschieden hatten, ändern doch viele ihre Entscheidung und ziehen nicht nach Russland."

Einwanderer aus dem Baltikum und Deutschland

Die Anträge auf russische Staatsbürgerschaft aus europäischen Ländern sind im Vergleich zur Gesamtzahl unbedeutend. Eine Ausnahme bilden Lettland und Deutschland. So wollten im vergangenen Jahr 633 Menschen von Lettland nach Russland umsiedeln und 814 Personen aus Deutschland beantragten vorübergehend Asyl. Das ist im Vergleich zu den Vorjahren ein erheblicher Anstieg. Viele der neuen Übersiedler sind ehemalige Sowjetbürger oder deren Kinder, die in den vergangenen 30 Jahren nach Europa gezogen sind.

Der Telegram-Kanal "Put Domoj" (Weg nach Hause) berät in Fragen der Staatsbürgerschaft und wird von den russischen Behörden unterstützt. Von den 25.000 Abonnenten kommt etwa die Hälfte aus Deutschland und Kasachstan. In der Chatgruppe erklärten viele Russischsprachige in einer Umfrage, sie verließen Europa "aus Angst um ihre Kinder und ihre Zukunft" (43 Prozent), weil sie "in einer Zeit des historischen Umbruchs an Russlands Seite stehen wollen" (42 Prozent) und wegen "Nazismus und Russophobie" (39 Prozent).

Allerdings will die Hälfte der Chatmitglieder vorerst nicht umziehen, sondern noch Informationen sammeln. Ihr größtes Interesse gilt dabei bürokratischen Aspekten und der Möglichkeit, eine zweite Staatsbürgerschaft in Russland zu behalten.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk