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PolitikIsrael

Terrorangriff der Hamas ändert israelisch-arabische Agenda

Jennifer Holleis
11. Oktober 2023

Der Terrorangriff der Hamas und die folgende Gewalt werfen die Frage auf, ob die Annäherung Israels an weitere arabische Staaten noch eine Zukunft hat. Dort rückt die Lage der Palästinenser wieder stärker in den Fokus.

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Vor dem Gazastreifen wird ein israelischer Panzer in Stellung gebracht
Ungewiss: die politischen Auswirkungen des Terrorangriffs der HamasBild: Amir Cohen/REUTERS

Die Folgen der terroristischen Attacken der Hamas sind nicht auf den Gazastreifen und Israel begrenzt. Ihre Auswirkungen reichen weit über deren Grenzen hinaus. Unlängst noch gepflegte Hoffnungen auf eine friedliche Neuordnung des Nahen Ostens und weitere israelisch-arabische Normalisierungs-Vereinbarungen scheinen zumindest bis auf Weiteres erst einmal vom Tisch.

Insbesondere wirkt sich der Angriff auch auf die israelisch-saudischen Normalisierungsbemühungen aus. Noch vor zwei Wochen hatten der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman und der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu erklärt, ihre Länder kämen sich "jeden Tag näher " und stünden "an der Schwelle zu einem Abkommen, das ein Quantensprung für die Region" wäre. Diese Worte wirken inzwischen wie aus einer anderen Zeit.

Zweistaatenlösung wieder im Fokus?

Auch scheint Mohammed bin Salman sein bisheriges Desinteresse an einer Zweistaatenlösung, die den Palästinensern einen unabhängigen Staat mit Ostjerusalem als Hauptstadt geben würde, noch einmal überdacht zu haben. So hatte er noch Ende September die Zweistaatenlösung in einem großen Fernsehinterview mit dem US-Sender Fox News nicht einmal erwähnt. Er beschränkte sich auf die Erklärung, das angestrebte Abkommen der Saudis mit Israel werde auch die Bedürfnisse der Palästinenser erfüllen und ihnen "ein gutes Leben sichern". 

Doch nach den terroristischen Angriffen der militant-islamistischen Hamas auf Israel hat sich Saudi-Arabien öffentlich wieder deutlich für eine Zweistaatenlösung ausgesprochen. Zugleich bemüht sich das Land, wieder stärker als Unterstützer der palästinensischen Bevölkerung wahrgenommen zu werden.

Zwar haben die meisten Länder weltweit ihre Unterstützung für Israel und sein Recht auf Selbstverteidigung gegen Terrorangriffe zum Ausdruck gebracht. Doch in vielen arabischen und muslimischen Staaten rückt spätestens seit Beginn der israelischen Gegen-Angriffe auf den Gazastreifen wieder das Schicksal der Palästinenser in den Vordergrund, viele Menschen dort fühlen Solidarität mit den Palästinensern, anti-israelische Ressentiments haben wieder Konjunktur. Die Wiederbelebung der palästinensischen Frage im arabisch-muslimischen Raum und das Verdrängen der Normalisierungsbemühungen von der regionalen Agenda sind insofern ein Triumph für die unter anderem vom Iran unterstützte Hamas, die von der Europäischen Union und Deutschland, den USA und anderen Ländern als terroristische Organisation eingestuft wird.

"Die Aktionen der Hamas sind eine klare Mahnung an die Saudis, dass die palästinensische Frage nicht bloß als ein weiteres Unterthema in den Normalisierungsverhandlungen behandelt werden sollte", schreibt Richard LeBaron, Nonresident Senior Fellow am US-amerikanischen Atlantic Council, auf der Website des Thinktanks. "Die Anschläge werden die Normalisierung der Beziehungen zwischen Saudi-Arabien und Israel in den Hintergrund drängen", meint er. 

Zerstörte Infrastruktur im Gazastreifen - Aufnahme vom 09. Oktober 2023
Zerstörte Infrastruktur im Gazastreifen - Aufnahme vom 09. Oktober 2023Bild: Mahmud Hams/AFP/Getty Images

Weitere Annäherung derzeit unwahrscheinlich 

Ähnlich sieht es Jonathan Panikoff, Direktor der Scowcroft Middle East Security Initiative, ebenfalls Atlantic Council. Es sei unwahrscheinlich, dass es in naher Zukunft Fortschritte hinsichtlich der saudisch-israelischen Annäherung geben werde, sagt er im Gespräch mit der DW. Wenn die Reaktion Israels auf den Angriff der Hamas zu immer mehr Toten und Zerstörung in Gaza führe, werde sich die zur Verständigung der beiden Staaten nötige Politik kaum umsetzen lassen.

Tatsächlich hatte der israelische Verteidigungsminister Joav Galant bereits am Montag (09.10.) den Befehl ausgegeben, den Gazastreifen vollständig abzuriegeln. "Es wird keine Strom-, Lebensmittel- oder Treibstofflieferungen nach Gaza geben", teilte er in einer Erklärung mit. 

Inzwischen haben die Vereinten Nationen (UN) Israel vor einer vollständigen Abriegelung des Gebiets gewarnt. Die Unterbrechung aller Lieferungen von Wasser, Strom oder Benzin in den Gazastreifen sei unter dem humanitären Völkerrecht verboten, so die UN. Menschen dürfe nicht das vorenthalten werden, was sie zum Überleben brauchen, sagte der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, am Dienstag (10.10.) in Genf.

Anti-israelische Stimmung 

In der Summe dürften die begonnenen Vergeltungs-Aktionen Israels viele Bürger in arabischen und muslimischen Staaten der Region wohl weiter gegen den jüdischen Staat aufbringen - insbesondere, wenn auf palästinensischer Seite immer mehr zivile Opfer zu verzeichnen wären.

Er gehe davon aus, dass "die Israel gegenüber nach wie vor überwiegend feindlich gesonnene öffentliche Meinung" in den arabischen Staaten durch die israelischen Maßnahmen noch verstärkt wird", sagt Hugh Lovatt vom European Council on Foreign Relations im Gespräch mit der DW.

Der saudische Kronprinz und Premier Mohammed bin Salman, November 2022
Normalisierung mit Israel scheint aktuell nicht mehr auf seiner Agenda: Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman Bild: Leon Neal/empics/picture alliance

Diese Stimmung dürfte das Zustandekommen eines Normalisierungsabkommens zwischen Israel und Saudi-Arabien enorm erschweren, so Lovatt. Zugleich könnten die Regierungen von den Unterzeichnerstaaten der zuletzt abgeschlossenen Normalisierungsabkommen mit Israel - etwa Marokko und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) - sich absehbar zu einer deutlich kritischeren Haltung gegenüber Israel und einer mehr pro-palästinensischen Rhetorik entschließen, um auf diese Weise den steigenden öffentlichen Druck in ihren Ländern zu kanalisieren.

So bekundeten die VAE - sie hatten 2020 ein Normalisierungsabkommen mit Israel unterzeichnet - zwar Beileid für die israelische Zivilbevölkerung und riefen beide Seiten auch zur Deeskalation auf, berichtete der Finanznachrichtendienst Bloomberg. Allerdings hätten sie die Hamas "nicht direkt verurteilt."

Einfluss von USA und Iran

Doch für den künftigen Kurs Saudi-Arabiens hinsichtlich des Verhältnisses zu Israel wird nicht nur der Druck der öffentlichen Meinung in Nahost von Bedeutung sein. Eine bedeutende Rolle werden auch zwei weitere Länder spielen: Iran und die USA.

Trotz der in diesem Jahr erfolgten Annäherung zwischen Saudi-Arabien und seinem ehemaligen Rivalen Iran stehen beide Länder hinsichtlich ihrer Verbündeten weiterhin auf gegensätzlichen Seiten. Während Iran die Hamas unterstützt, ist Saudi-Arabien traditionell ein Verbündeter der USA. Das Königreich hatte gehofft, durch eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel unter anderem auch das Verhältnis zu den USA wieder neu zu ordnen. Diese waren durch die Ermordung des saudischen Kritikers Jamal Khashoggi 2018 stark unter Druck geraten.

Ali Khamenei, das religiöse Oberhaupt Irans, bei einer Rede im Oktober 2023
Unterstützer der Hamas: Ali Khamenei, das religiöse Oberhaupt Irans Bild: Office of the Iranian Supreme Leader/WANA via REUTERS

Eine Normalisierung mit Israel würde den Saudis - nach allem, was bisher über die Verhandlungen durchgesickert ist - auch ein noch stärkeres Militärbündnis mit den USA sowie eine Genehmigung zur Urananreicherung unter US-Aufsicht gewähren.

"Sicherheitsstrategen in Riad könnten sich derzeit fragen, wie viel Tod und Zerstörung Saudi-Arabien in einem ähnlichen Konflikt zu befürchten hätte", so Panikoff in Bezug auf den Terrorangriff der Hamas auf Israel. "Denn seine Verteidigungsanlagen sind nicht annähernd so stark wie die Israels", so der Experte.

Trotz des derzeitigen öffentlichen Drucks, Solidarität mit den Palästinensern zu zeigen, könnte dies Saudi-Arabien zumindest langfristig durchaus veranlassen, an den Verhandlungstisch mit Israel und den vermittelnden USA zurückzukehren, meint Panikoff. Denn ein solches Abkommen mitsamt stärkerer amerikanischer Sicherheitszusagen könnte wesentlich dazu beitragen, dass sich Saudi-Arabien künftig auch selbst besser gegen mögliche Angriffe von außen schützen könnte.  

Aus den Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

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