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Warum die Inflationsrate unter Erdogan explodiert

15. Juni 2022

Die steigende Inflation ist weltweit ein Problem, doch in der Türkei ist sie erdrückend: Bei 73,5 Prozent liegt die Rate derzeit. Präsident Erdogan beharrt derweil auf seiner Niedrigzinspolitik.

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Mit seiner Niedrigzinspolitik sorgt Erdogan für Absturz der türkischen Lira.
Mit seiner Niedrigzinspolitik sorgt Erdogan für Absturz der türkischen Lira.Bild: Turkish Presidency/AP/picture alliance

Mittagszeit in der türkischen Hauptstadt Ankara. Eine ältere Frau steigt in einen blau-weißen Sammelbus, einen sogenannten Dolmus. Sie legt ihre Einkaufstüten hin, nimmt ihr Portemonnaie aus der Tasche und streckt dem Fahrer das Geld hin. Sie ist sauer. "Von Kizilay zu mir kostete eine Fahrt 2,5 Türkische Lira, dann stieg der Preis auf 3,5 Lira, dann 5 Lira, nun 7 Lira." Die Fahrer könnten nichts dafür, sagt sie, verantwortlich sei ein anderer: "Es ist seine Schuld, er treibt die Preise in die Höhe. Er soll bitteschön erklären, warum der Sprit immer teurer wird."

Gemeint ist Recep Tayyip Erdogan, der türkische Präsident. Wie viele andere spricht die Rentnerin seinen Namen nicht offen aus - die Angst vor Repressalien bis hin zur Verhaftung wegen Präsidentenbeleidigung ist allgegenwärtig.

Türkischer Sammelbus, bekannt als Dolmus aus Ankara
Ein Dolmus in AnkaraBild: Diego Cupolo/Zuma/imago images

Der Fahrer des Dolmus, Salim Demirtas, hat Verständnis für solchen Reaktionen. Der Familienvater arbeitet seit Jahren in der türkischen Hauptstadt. So eine galoppierende Inflation habe er seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen, sagt er. "Wir wollen keine Preiserhöhung. Die Menschen haben jetzt schon Schwierigkeiten, das Fahrgeld zu zahlen. Wenn es noch teurer wird, werden wir noch weniger Kunden haben."

Auch die Ticketpreise für Schnellzüge wurden am 13. Juni zum vierten Mal in diesem Jahr angehoben - ausgerechnet zum Sommerbeginn, kritisieren viele Bürger. Im Januar kostete eine Fahrt zwischen Ankara und Istanbul 84 Lira, nun 195 Lira, umgerechnet rund 11 Euro.

Inflation in der Türkei bei 73,5 Prozent

Steigende Energiekosten und der Ukraine-Krieg treiben die Preise weltweit in die Höhe. Doch während die Inflationsrate in Deutschland beispielsweise bei derzeit 7,9 Prozent liegt, beträgt sie in der Türkei fast das Zehnfache: Im Mai kletterte sie offiziellen Angaben zufolge auf 73,5 Prozent - das ist der höchste Wert seit 1998.

Laut Experten der unabhängigen Forschungsgruppe für Inflation, ENAG, liegt sie noch viel höher: Sie gehen von einer Teuerungsrate von 160,8 Prozent aus. Das türkische Statistikamt TÜIK hat gegen die ENAG Anzeige bei der zuständigen Staatsanwaltschaft eingereicht. ENAG verbreite Daten, die dem Ansehen der Statistikbehörde schaden, hieß es. Dies sei ein Angriff auf den Leumund des TÜIK.

Nach offiziellen Angaben lag die Inflation in der Türkei im vergangenen Monat bei 73,5 Prozent.
Nach offiziellen Angaben lag die Inflation in der Türkei im vergangenen Monat bei 73,5 ProzentBild: Sha Dati/Xinhua/imago images

Schon vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine erlebte die türkische Wirtschaft turbulente Zeiten, mit dem Ukraine-Krieg gerät das Land nun in eine tiefe Krise.  Staatlichen Maßnahmen greifen nicht. Der Mindestlohn wurde drastisch erhöht und ist dennoch immer weniger wert, umgerechnet in Euro sind es 278 Euro im Monat. Derzeit kostet ein Euro rund 18 Lira.

Enormer Anstieg der Spritpreise

Besonders stark machen sich die Preise an den Zapfsäulen bemerkbar. Laut dem Statistikamt TÜIK sind Transportkosten, zu denen auch die Benzin- und Dieselkraftstoffe gezählt werden, im Mai im Vergleich zum Vorjahresmonat um 224 Prozent angestiegen. Die Türkei deckt fast ihren gesamten Energiebedarf aus dem Ausland, die weltweit steigenden Öl- und Gaspreise wirken sich daher besonders stark aus. 

Die Preise für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke haben sich fast verdoppelt, sie lagen im Mai um 91,6 Prozent höher als vor einem Jahr. Längst haben viele Menschen Existenzängste.

Finanzexperten geben der türkischen Notenbank eine Mitschuld an der Entwicklung, darunter auch der Wirtschaftswissenschaftler Murat Birdal von der Universität Istanbul: Die Zentralbank sei nicht unabhängig und trage mit ihrer Zinspolitik erheblich zur Inflation bei. Er erwarte Ende des Jahres sogar eine dreistellige Inflationsrate in der Türkei.

In der Tat hätte die türkische Zentralbank in den vergangenen Monaten bei den ausufernden Preisen die Geldpolitik straffen und die Zinsen erhöhen müssen, so empfiehlt es zumindest die gängige Wirtschaftslehre. Das aber tut die türkische Notenbank nicht - und ist damit ganz auf der Linie von Präsident Erdogan. Der behauptet, die Inflation sei Folge hoher Zinsen. Am Wochenende betonte er bei einer Kundgebung erneut, dass seine Regierung die Zinsen nicht erhöhen, sondern im Gegenteil eher weiter senken werde.

Krise seit der Zinssenkung

Allerdings bekam die Türkei erst nach den Zinssenkungen im September 2021 größere Probleme. Die Inflation steigt seither ungebremst weiter. Das Handelsbilanzdefizit kletterte zuletzt auf 25,71 Milliarden Dollar. Gleichzeitig verliert die türkische Währung weiter an Wert: In diesem Jahr büßte sie gegenüber dem Dollar in weniger als sechs Monaten 23 Prozent ein, im vergangenen Jahr waren es insgesamt 44 Prozent. Mit dem Wertverlust der Lira werden sämtliche Importe teurer, vor allem auch Energie und Rohstoffe.

Logo der türkischen Zentralbank
Logo der türkischen Zentralbank am Eingang der Zentrale in der Hauptstadt AnkaraBild: Getty Images/AFP/A. Altan

Mit seiner Niedrigzinspolitik glaubt Erdogan, ausländische Investitionen ins Land locken und die Wirtschaft ankurbeln zu können. Am Montag versprach er, die Türkei in die Riege der zehn größten Wirtschaftsnationen zu führen. Die Zentralbank folgt der Politik des Präsidenten. Seit 2019 hat Erdogan drei Mal den Chef der Zentralbank ausgetauscht. Auch der Vorsitzenden des Statistikamtes TÜIK, das die Inflationsrate berechnet, wurde Anfang des Jahres ersetzt

Erdogan hat derzeit ein großes Ziel: Er will die Wahlen 2023 gewinnen. Gerade erst gab er bekannt, dass er sich als Kandidat der Volksallianz aufstellen lassen wird, einem Wahlbündnis mit der ultrarechten Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP). Die MHP ist in Deutschland vor allem durch ihre Organisation "Graue Wölfe" bekannt, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird.

Welche Auswirkungen die Inflation auf Wahlergebnisse haben kann, weiß Erdogan aus eigener Erfahrung: Er gründete seine Partei AKP mitten in der politischen und wirtschaftlichen Krise 2001, als die Inflationsrate bei fast 70 Prozent lag. Ein Jahr später gewann die AKP die Parlamentswahlen mit gewaltiger Mehrheit: Mit 365 von 550 Sitzen brachte sie Erdogan als Hoffnungsträger an die Macht.

Die Wähler bestraften damals die Regierungsparteien für die schwere Krise hart: Keiner der damaligen Koalitionspartner konnte die Zehn-Prozent-Hürde überwinden und ins Parlament einziehen.

Mitarbeit: Batu Bozkürk, Emre Eser

Elmas Topcu | Journalistin
Elmas Topcu Reporterin und Redakteurin mit Blick auf die Türkei und deutsch-türkische Beziehungen@topcuelmas