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Politik

"Erdogan verliert Kontrolle über Medien"

Deger Akal
29. Juni 2020

Präsident Erdogan erhöht den Druck auf die türkischen Medien. Laut einer Studie gehen seine Bemühungen aber nicht auf. Im DW-Interview bewertet Politikwissenschaftler und Studienautor Andrew O'Donohue die Ergebnisse.

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Bild: Getty Images/AFP/A. Altan

DW: Sie haben mit Ihrer Studie unter anderem versucht, nachzuvollziehen, wie sich die Pressezensur der türkischen Regierung auf die Mediennutzung auswirkt. Was ist die bemerkenswerteste Erkenntnis in Ihrer Studie?

Andrew O'Donohue: Wir haben festgestellt, dass die erfolgreiche Kontrolle durch den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nicht zunimmt. Nach unserer Studie sind seine Bemühungen, die Medien zu kontrollieren, nach hinten losgegangen. Er verliert eher Kontrolle.

In Ihrer Studie ist zu lesen, dass 70 Prozent der Bevölkerung der Meinung sei, dass die türkische Presse "voreingenommene und unzuverlässige Informationen verbreitet"; sogar 56 Prozent sind der Auffassung, dass "die Presse unter staatlicher Kontrolle steht und keine Möglichkeit hat, sich frei zu äußern". Wie bewerten Sie diese Zahlen?

Andrew O'Donohue - Politikwissenschaftler an der Istanbul Policy Center Sabancı University
Andrew O'Donohue - Politikwissenschaftler an der Istanbul Policy Center Sabancı UniversityBild: Privat

Besonders auffällig war für uns, dass diese Auffassung auch von Menschen geteilt wird, die eigentlich der Regierung nahe stehen: Zum Beispiel meint die Mehrheit der ultranationalen MHP-Wähler, dass es keine freien Medien in der Türkei gibt. 50 Prozent der Wähler der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP und 63 Prozent der MHP-Wähler gaben sogar an, dass sie die türkische Presse als "voreingenommen und unzuverlässig" wahrnehmen.

Es sticht auch ins Auge, dass die Polarisierung in den Medien scheinbar sehr vorangeschritten ist - es gibt keine einzige Medienorganisation, der von allen Seiten der Gesellschaft vertraut wird. Die Situation ist in Ländern wie den USA ganz anders: Es gibt zwar eine politische Polarisierung - doch die Öffentlichkeit nimmt einige Medienunternehmen als zuverlässig wahr. In der Türkei hingegen ist das Bild besorgniserregend.

Würden Sie bitte erklären, was Sie mit besorgniserregend meinen?

Es ist beispielsweise von großer Bedeutung, die Außenpolitik der Regierung medial in Frage zu stellen. Das von Russland an Ankara gelieferte Raketenabwehrsystem S-400 ist ein gutes Beispiel: Wenn wir die Berichterstattung regierungsnaher Medien wie A Haber, CNN Türk oder Yeni Safak betrachten, dann sehen wir, wie das Waffensystem mit Hinweisen auf seine "überlegene Reichweite" verherrlicht wird. Dass der Kauf die Beziehungen der Türkei zur NATO gefährdet, wird verschwiegen. Der Mangel an neutralen Einordnungen kann also auch die nationale Sicherheit gefährden.

In Ihrer Studie weisen Sie darauf hin, dass die Öffentlichkeit versucht, Nachrichten aus den sozialen Medien und kleinen Internet-Plattformen zu beziehen. Man möchte offensichtlich die Medienzensur umgehen. Könnte dieser Trend für Erdogan gefährlich werden?

Zuletzt hat der Nachrichtendienst Twitter nach eigenen Angaben über 7000 Konten gelöscht, auf denen die AKP-Regierung mit manipulativen Botschaften unterstützt worden sein soll. Das zeigt, dass sich Erdogan bemüht, auch die sozialen Netzwerke zu lenken, um seine Unterstützung abzusichern. Zum Beispiel wurden während der Coronakrise Nutzer festgenommen, weil sie kritische Beiträge geteilt haben. Erdogans Bemühungen, die Kontrolle in den sozialen Medien zu übernehmen, tragen jedoch bisher keine Früchte. Es gibt Anzeichen dafür, dass er sich vor den sozialen Medien fürchtet.

Erdogan ist besorgt, dass die sozialen Medien (...) erfolgreichen Oppositionspolitiker wie Ekrem Imamoglu oder Ali Babacan Auftrieb geben.

Denken Sie, dass der Druck auf die Medien durch die türkische Regierung und die zunehmende Polarisierung die Qualität des Journalismus beeinflussen?

Dank unserer akademischen Arbeit können wir sehen, dass sowohl die regierungsnahe als auch die oppositionelle Presse in vielerlei Hinsicht bewusst falsche Informationen verbreitet. Zum Beispiel verbreitete die auflagenstarke Oppositionszeitung Sözcü falsche Informationen über syrische Flüchtlinge und Einwanderer, die sich in der Türkei aufhalten. Das passiert häufig.

Ein schwerer Schlag gegen die Presse ist auch, dass in den letzten Jahren kaum noch investigativer Journalismus betrieben wird. Selbst in unabhängigen Medien wie T24 oder Medyascope sind hauptsächlich Kommentare zu sehen oder zu lesen. Es werden permanent persönliche Meinungen von Experten oder bekannten Persönlichkeiten weitergegeben.

Türkei: Journalisten in Corona-Zeiten gefährdet

Besonders in Zeiten der Pandemie ist die Presse dazu verpflichtet, die Öffentlichkeit korrekt zu informieren. Wie bewerten Sie die Berichterstattung während der Coronakrise?

Es ist bedenklich, dass die Menschen in der Türkei mit Nachrichten wie "dank der türkischen Gene wird uns das Virus nichts anhaben" belangt wurden. Darüber hinaus sendete die regierungsnahe Presse während der Krise kontinuierlich die Botschaft: Wir sind "ein Vorbild für die ganze Welt". Die Presse hätte die Regierung eher dazu bewegen sollen, schnellstmöglich wirksame und schnelle Maßnahmen zu ergreifen.

Trotz aller Schwierigkeiten gibt es Journalisten und Medienunternehmen, die für Pressefreiheit kämpfen. Das haben Sie auch in Ihrem Bericht aufgegriffen. Haben Sie Hoffnung?

Die türkische Presse befindet sich in einem sehr bedauernswerten Zustand. Es gibt mutige Helden, die ihr Leben riskieren, um der Bevölkerung die Wahrheit zu vermitteln. Es gibt auch Personen, die die Genauigkeit von Informationen überprüfen und Desinformation offengelegen. Es gibt Journalisten, die versuchen, die lokale Presse am Leben halten.

Die Situation und Tendenzen mit Hinblick auf die türkische Presse sind äußerst besorgniserregend; gleichzeitig wünscht sich die Bevölkerung einen Zugang zu unabhängigerem Journalismus. Es gibt einige, die dafür kämpfen, und das ist sehr wichtig.

Die US-amerikanische Denkfabrik Center for American Progress (CAP) analysierte in ihrer neuen Studie "Veränderungen der Medienlandschaft" die türkische Medienlandschaft. Der Politikwissenschaftler Andrew O'Donohue war an der Studie beteiligt. 

Das Gespräch führte Deger Akal.