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Deutsche Schicksale am 8. Mai 1945

4. Mai 2010

Wilfried Merten war am 8. Mai 1945 zu Hause und erholte sich von einer Verletzung. Hinter ihm lag ein Weg zu Fuß von Bayreuth in Bayern nach Ferch in Brandenburg: Mehr als 400 Kilometer mit einer Beinverletzung.

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Wilfried Merten 1944 bei der Segelflieger-Ausbildung vor einem Waldstück stehend.
Wilfried Merten bei der Segelflieger-Ausbildung 1944Bild: Privat

April 1945: Seit sieben Monaten liegt Wilfried Merten in Bayreuth mit einer schmerzhaften Beinverletzung im Lazarett. Er kann ohne fremde Hilfe nicht gehen, nur ein wenig Hin und Her auf dem Flur vor seinem Zimmer ist möglich. Am 10. April werden im Lazarett alle herausgesucht, die gehfähig sind. Merten ist nicht dabei. Aber er muss weg aus Bayreuth, schließlich sind die amerikanischen Panzer in unmittelbarer Nähe schon zu hören.

Fahrschein nach Leipzig

Da er nicht laufen kann, bleibt für ihn nur die Reichsbahn. Er bekommt gerade noch einen Fahrschein nach Leipzig. Dort kann er in ein anderes Lazarett verlegt werden: "Aber mir wurde auch gleich gesagt, die Züge fahren nicht mehr. Ich habe daraufhin entschieden, dass ich mich einer Gruppe anschließe, die zu Fuß ihr Glück versuchen wollte." Wilfried Merten besorgt sich Schuhe, eine Uniform und etwas Proviant. Am Nachmittag startet die Gruppe Richtung Bad Berneck im Fichtelgebirge. Vor ihnen liegt ein Fußmarsch von gut 20 Kilometern. Wilfried Merten kommt kaum mit: "Nachdem wir aus der Stadt heraus waren, brauchten wir eine Pause und ich merkte dabei, dass ich mein Pulver schon verschossen hatte - mir taten alle Glieder weh."

Portraitfoto von Wilfried Merten heute(Foto:Privatbesitz Wilfried Merten)
Wilfried Merten heuteBild: Privat

In Berneck schließlich lässt Wilfried Merten seine Verwundung versorgen und fällt in einen Tiefschlaf. Am nächsten Morgen versucht er sich dort anzumelden und zu bleiben. Zu seinem Unglück gerät er mit seinem Ansinnen an einen Hauptfeldwebel, der behauptet, dass Merten desertieren will: "Der wollte mich den Feldjägern oder der Militärgerichtsbarkeit übergeben."

Fremde Hilfe

Also macht er sich heimlich wieder auf den Weg. Gestützt auf eine Krücke humpelt er mit einem anderen Soldaten los und findet nach kurzer Zeit einen Lastwagen der Luftwaffe, der sie ein Stück in Richtung Nordosten mitnimmt. Als sie das Fichtelgebirge passiert haben, trennen sich die Wege. Wilfried Merten und sein Begleiter steigen in einem kleinen Ort aus. Am Ende der Siedlung steht ein Bauernhof, vor dessen Tor der Bauer sie kommen sieht: "Er bat uns herein, als wir fragten, ob wir dort übernachten könnten. Er gab uns reichlich zu essen und auf einer Eckbank in der Küche konnten wir schlafen." So können sich die beiden von den Strapazen des Tages erholen.

Feldjäger

Personenfoto von 1949: Wilfried Merten und Ehefrau vor dem bombardierten Potsdamer Stadtschloss (Foto:Privatbesitz Wilfried Merten)
Vier Jahre nach dem Krieg: Wilfried Merten und Ehefrau vor dem zerstörten Potsdamer Stadtschloss.Bild: Privat

Für Wilfried Merten ist nicht nur das schmerzende Bein ein Handicap. Er muss ständig vor Feldjägern auf der Hut sein, die nach Deserteuren suchen. Am nächsten Tag gelangt er mit einem LKW nach Eger - das liegt im heutigen Tschechien. Seit seinem Aufbruch aus Bayreuth hat er erst 80 Kilometer zurückgelegt. In Eger erfährt er, dass sein ursprüngliches Reiseziel Leipzig nicht mehr erreichbar ist. Die Stadt ist bereits von der 3. US-Armee eingeschlossen.

So will Merten am Bahnhof nach Zügen Richtung Brandenburg Ausschau halten, sieht aber nur eine Streife der Feldjäger auf den Gleisen. Jetzt bloß nicht erwischen lassen, denkt er. Denn auf seinem Fahrschein steht als Reiseziel Leipzig. Wegen des neuen Reiseziels muß Wilfried Merten seinen Fahrschein ändern lassen, sonst läuft er wieder Gefahr als Deserteur verhaftet zu werden. Aber es findet sich niemand, der diese Korrektur vornehmen will. Schließlich hilft ihm ein Arzt: "Der nahm einen Federhalter, nachdem ich ihn angesprochen hatte, hat das eine durchgestrichen und Potsdam dahinter geschrieben."

Glückliches Ende

Das Wohnhaus der Familie Merten in Ferch, Kemnitzerheide im Jahre 1947. (Foto:Privatbesitz Wilfried Merten)
Das Ziel der Mühen: Wohnhaus der Familie Merten in FerchBild: Privat

So kommt Wilfried Merten schließlich nach Ferch in Brandenburg. Hinter sich hat er eine Strecke über mehr als 400 Kilometer, zu Fuß, mit Lastwagen, mit dem Zug. Geschafft hat er das alles mit der "Unterstützung vieler glücklicher Umstände und durch viele Menschen, die mir geholfen haben," erinnert er sich heute. Er ist nicht der einzige Soldat, der auf so abenteuerliche Weise den Weg nach Hause angetreten ist. Selbst aus entfernt gelegenen sibirischen GULAGS, den berüchtigten russischen Gefangenenlagern, gab es erfolgreiche Fluchtversuche. Mehrere Tausend Kilometer legten die Flüchtlinge zu Fuß oder mit Verkehrsmitteln zurück, auf denen sie erlaubt oder unerlaubt mitfahren durften.

1959 wird ein sechsteiliger Fernsehfilm zum Straßenfeger. "Soweit die Füße tragen" erzählt die Geschichte der abenteuerlichen Flucht des Soldaten Clemens Forell aus einem ostsibirischen GULAG.

Autor: Matthias von Hellfeld
Redaktion: Silke Wünsch