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Rat- und Hoffnungslosigkeit in Bulgarien

Alexander Andreev5. Oktober 2014

Bulgarien steckt in einer tiefen politischen Krise. Nach Massenprotesten mussten zwei Regierungen zurücktreten. An diesem Sonntag wählen die Bulgaren ein neues Parlament. Wie stehen die Chancen für einen Neuanfang?

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Wahlplakate in Sofia, Bulgarien (Foto: DW)
Bild: BGNES

Die Bulgaren sind trauriger EU-Spitzenreiter in gleich mehreren Disziplinen: Bulgarien ist das ärmste EU-Land mit dem niedrigsten Bruttoinlandsprodukt, das Land mit der höchsten gefühlten Korruption sowie, laut Gallup-Studie von 2012, mit der unglücklichsten Bevölkerung. Zurzeit gibt es kaum Anzeichen, dass sich die Lage bald bessern könnte, meint der Wirtschaftswissenschaftler Georgi Angelov. "Die politische Krise dauert schon fast zwei Jahre an und ist noch nicht vorbei. Sie wirkt sich negativ auf die Wirtschaft und die Investitionen aus." Die russisch-ukrainische Krise, die Überflutungen im Sommer 2014, das wachsende Haushaltsdefizit sowie die Destabilisierung der Banken verschlimmern die Situation zusätzlich. "Unterm Strich: die Herausforderung für die künftige Regierung ist riesengroß", sagt Angelov.

Schwierige Ausgangslage

Vor dem Hintergrund des russisch-ukrainischen Konflikts befürchten viele Bulgaren einen kalten Winter, denn Bulgarien ist fast komplett von russischem Gas abhängig. Einige rechnen deshalb auch mit neuen Straßenprotesten. Jüngste Umfragen zeigen, dass 70 Prozent der Bürger keine großen Hoffnungen in die künftige Regierung setzen und dass über die Hälfte der Bulgaren keine Wende zum Positiven erwartet. Auch der Wirtschaftsexperte Krassen Stantchev ist skeptisch: "Ich erwarte eher eine Verschlechterung der Wirtschafts- und Fiskalpolitik." Im Wahlkampf seien sehr viele populistische Versprechen zu hören gewesen.

Etwas mehr Optimismus zeigt dagegen der Politologe Georgi Ganev. Seiner Meinung nach sei bei diesen Wahlen der Begriff "Wende" zwar übertrieben, aber "falls wir nach der Wahl eine stabile Regierung mit klar definierten Schwerpunkten bekommen würden, könnte das zur Beruhigung des zurzeit sehr turbulenten Geschäftsklimas führen."

Junge Bulgaren mit Einkaufstüten (Foto: BGNES)
Der Frust bei den Bulgaren ist großBild: BGNES

Populismus in den Wahlprogrammen

Welche Politik aber nach der Wahl tatsächlich umgesetzt wird, ist aus den Wahlprogrammen der Parteien kaum ersichtlich. Der Politologe Daniel Smilov ist überzeugt: die Programme nehme in Bulgarien kein Politiker ernst, kein Wähler lese dieses Wahlaccessoire. "Gleichzeitig übertrumpfen sich besonders die nationalpopulistischen Kandidaten mit Phantasievorschlägen, wie der Verstaatlichung der Energieversorger oder Sofortmaßnahmen zur Schaffung von zwei Millionen Arbeitsplätzen", so Smilov.

Billigere Energie, bessere Steuerpolitik und erschwingliche Medizindienstleistungen - das sind die Lieblingsthemen der Populisten. Dafür sei aber fast kein Spielraum da, warnen die Experten. Denn die Energiepreise in Bulgarien sind auch schon jetzt die niedrigsten in der EU, die Flatrate-Steuer von zehn Prozent kann man gar nicht weiter nach unten drücken, eine Umverteilung der Steuerlast würde die Wirtschaft abwürgen und im Gesundheitswesen herrschen Korruption und Geldmangel, unter denen letztendlich die Masse der armen Patienten leidet.

Korruption zersetzt die Gesellschaft

Symbolbild Korruption in Bulgarien (Foto: BGNES)
Großes Problem in Bulgarien: die KorruptionBild: BGNES

Der Politikprofessor Evgenii Dainov sieht in der Korruption eine ernste Gefahr für den Staat: "Die einzige Lösung ist, die Institutionen des Staates wieder aufzubauen, die zurzeit von privaten Interessen in Gefangenschaft genommen sind." Der Justizexperte Tihomir Bezlov hat aktuell das höchste Niveau der Schmiergeldzahlungen von Bürgern an Staatsangestellte seit dem Jahr 2000 festgestellt. Sein Kollege Todor Yalamov behauptet sogar, dass sich die Korruptionsrate im öffentlichen Sektor seit 2009 verdoppelt hat. Die oligarchischen Strukturen, die das Land beherrschen, hätten das Vertrauen der Bürger in den Institutionen total zerstört, so Yalamov. "Bulgarien muss eine Schicksalsfrage beantworten: bleibt es auf dem Weg zu einer oligarchischen Gesellschaft nach dem Vorbild Russlands oder wird es sich europäisch entwickeln?", sagt Dainov, der trotz allem optimistisch ist, "denn die Massenproteste gegen die Oligarchie haben in der Vergangenheit Wirkung gezeigt".#

Reformstau in der Justiz und Kriminalitätsprobleme

Ein weiteres großes Problem ist die hohe Kriminalität im Land. Nach dem EU-Beitritt Bulgariens im Jahr 2007 sanken die Kriminalitätsraten erstmals langsam. Für Todor Yalamov ist die Entwicklung damit zu erklären, dass sich sowohl die organisierte Kriminalität als auch viele Kleinkriminelle nach dem EU-Beitritt teilweise in Richtung Westen orientiert hätten. In den letzten Jahren habe sich der Trend allerdings, wegen der Krise und der verbesserten Kriminalitätsbekämpfung in den EU-Staaten, umgekehrt, so Yalamov.

Die Ursache für das Kriminalitätsproblem liegt im Reformstau in der Justiz und bei der Polizei: "Bulgarien ist führend, was die Zahl der Polizisten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung angeht, aber auf der Straße sieht man kaum Polizisten. Dafür ist der Verwaltungsapparat über alle Maße aufgeblasen." Eine Zeit lang hätten die Kontrollmechanismen der EU etwas Druck auf die Regierung ausgeübt, um wenigstens einige Schritte bei der Justizreform zu unternehmen, diese wirkten aber nicht mehr, sagt Yalamov: "Nach dem EU-Beitritt sank die Bedeutung dieser Kontrollinstanzen. Die bulgarischen Politiker haben nämlich festgestellt, dass die Kritik aus Brüssel keine praktischen Auswirkungen hat. Hier und da ein Stopp der EU-Gelder, aber mehr kam nicht."

Plenarsaal des Parlaments in Sofia (Foto: BGNES)
Plenarsaal des Parlaments in Sofia: Wer hat hier künftig das Sagen?Bild: BGNES

Nur die EU kann helfen

Generell überlagert das Gefühl der Aussichtslosigkeit die Wahlstimmung in Bulgarien. Jüngste Meinungsumfragen deuten auf einen sicheren Sieg der Mitterechtspartei GERB des ehemaligen Ministerpräsidenten Boiko Borissov hin. Zu erwarten ist eine Koalitionsregierung mit dem kleinen rechtsliberalen Reformblock. Die bisherigen Regierungsparteien BSP (Sozialisten) und DPS (Partei der türkischsprachigen Minderheit) werden voraussichtlich auf den Oppositionsbänken landen.