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Politik

Was zählt das Leben von Schwarzen in Italien?

Tobore Ovuorie
7. September 2022

In Italien gehört Rassismus für Schwarze zum Alltag. Auch Politiker heizen die Gewalt an, um Wählerstimmen zu gewinnen. Niemand steuere dagegen, kritisieren Aktivisten. Die DW sprach mit Betroffenen.

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Schwarzer mit Mütze, daran ein Zettel mit der Aufschrift "Blood has just one colour".
"Blut hat nur eine Farbe" - Immer wieder gibt es Proteste in Italien wegen Gewalt gegen SchwarzeBild: Reuters/A. Bianchi

Hinweis: Dieser Artikel enthält Darstellungen von rassistischer Gewalt und Verunglimpfungen, die einige Nutzende als verstörend empfinden könnten.

Vor vier Wochen ist Charity Oriakhi plötzlich Witwe geworden. Noch immer bleibt sie stumm, wenn ihre Kinder - ein Sohn und eine Tochter - nach ihrem Vater fragen. "Mein Sohn fragt mich: 'Wo ist Papa?', weil er denkt, dass sein Papa im Krankenhaus ist", sagt die in Italien lebende Nigerianerin im DW-Interview.

Die Kinder starren oft auf die Tür und erwarten, dass ihr Vater, Alika Ogochukwu, nach Hause kommt. "Auf seinem Rückweg kauft er ihnen Kleinigkeiten. Jetzt ist Sommer, er kauft ihnen Eis und vieles mehr", erinnert sich Oriakhi an die Fürsorge ihres Mannes. Seit dem 29. Juli gibt es keine kleinen Aufmerksamkeiten mehr von ihrem Vater.

Am helllichten Tag ermordet

Was ist passiert? Ogochukwu war ein Straßenverkäufer. An jenem Freitag wartete er nach der Arbeit an einer Bushaltestelle in Civitanova Marche, einem Badeort in Mittelitalien, auf seinen Bus, ergaben Gespräche der DW mit Beobachtern.

Hochzeitsfoto von Charity Oriakhi und Alika Ogochukwu
Charity Oriakhi sagt, ihr verstorbener Ehemann Alika Ogochukwu war ein fürsorglicher Ehemann und VaterBild: Antonio Calanni/AP/picture alliance

Dann kam eine junge Italienerin in Begleitung eines weißen Mannes vorbei, und Ogochukwu grüßte sie mit den Worten: "Ciao bella", ein informeller italienischer Ausdruck, der "Hallo oder auf Wiedersehen, meine Schöne" bedeutet. Auch Oriakhi bestätigte dies. "Die Leute, die dabei waren, sagten, mein Mann habe die Freundin des jungen Mannes gegrüßt: Ciao bella - einfach so. Ende."

Allein diese Bemerkung habe zu einem Wutanfall des Italieners geführt, die Situation eskalierte: Der 32-Jährige griff Ogochukwu an, obwohl dieser wegen einer Gehbehinderung an Krücken ging. Ogochukwu versuchte zu fliehen, der Angreifer überwältigte ihn, schnappte sich dessen Krücke und schlug damit auf den Nigerianer ein. Er stieß ihn zu Boden und ließ eine Flut von Schlägen auf ihn einprasseln, bevor er Ogochukwu mit bloßen Händen erwürgte. Anschließend machte sich der Angreifer davon, nicht ohne noch das Handy seines Opfers zu stehlen. All dies geschah am helllichten Tag, während Passanten die Mordtat mit ihren Handys filmten. 

Nach der Tat forderten Menschen auf mehreren Demonstrationen in Italien Gerechtigkeit für Ogochukwu. Politiker aller Parteien in Rom, die sich gerade im Wahlkampf befinden, drückten ihr Entsetzen aus.

Rassismus gehört zum Alltag

Doch dieser Vorfall sei in Italien keine Ausnahme, sagte Ojeaku Nwabuzo vom Europäischen Netzwerk gegen Rassismus. "Die Tat ist auf eine lange Geschichte rassistischer Gewalt im Land zurückzuführen", so die Anti-Rassismus-Aktivistin zur DW. Sie verstehe nicht, warum die Schaulustigen nicht helfen konnten. Und betont: Italien sei für tiefgreifenden Rassismus berüchtigt. Der Grund: Die Politik und die Strafverfolgungsbehörden gingen das Problem nicht umfassend an.

Karten und Blumen auf dem Gehweg als Gedenken für Alika Ogochukwu
Blumen und Beileidsbekundungen markieren den Ort, an dem Alika Ogochukwu getötet wurdeBild: Antonio Calanni/AP/picture alliance

Nwabuzo glaubt, dass Italien strukturelle und systemische Formen des Rassismus abschaffen kann: "Wenn wir uns speziell Italien ansehen, dann sollten wir uns mit den Migrations- und Staatsbürgerschaftsgesetzen befassen und sie ändern", betont Nwabuzo. "Damit sie nicht eine Art Zweiklassensystem schaffen, für weiße Italiener und Migranten, die vielleicht in erster, zweiter oder dritter Generation in Italien sind."

Die Polizei hingegen betonte kurz nach dem Tod von Ogochukwu, es gäbe keine Anzeichen für eine rassistische Tat. Als Auslöser des Verbrechens vermuteten die Ermittler eine übertriebene Reaktion des Verdächtigen, als das Opfer versuchte, dem Mann und seiner Partnerin etwas zu verkaufen und danach um eine Spende bat.

Zählt das Leben von Schwarzen in Italien?

Hintergrund der brutalen Tat ist die eklatante Missachtung für das Leben schwarzer Menschen, erklärt Kudus Adebayo, Mitarbeiter des African Center for Migration and Society an der Witwatersrand-Universität in Südafrika. "Afrikaner wurden über Jahre hinweg als Belastung für die europäische Glückseligkeit dargestellt", sagt Adebayo im DW-Interview. 

Dabei spielten nicht nur die Medien eine Rolle, sondern auch Politiker: Sie machen sich laut Adebayo populistische Ideologien zunutze, um um Wählerstimmen zu werben. 

"Es muss ein institutionelles Engagement geben, um sicherzustellen, dass die Verfolgung derartiger Straftaten richtig angelegt ist", so der Migrationsexperte zur DW.  "Die Menschen müssen aufgeklärt werden, damit sie sich mit diesem Thema auseinandersetzen können", fügte er hinzu. 

Überfülltes Schlauchboot, darauf viele mit Schwimmwesten. Zweites Boot mit Helfer, der  Schwimmwesten verteilt
Politiker haben dazu beigetragen, dass Migranten und Flüchtlinge aus Afrika als Problem gesehen werdenBild: Nora Bording/Sea-Watch/REUTERS

Auch Afrikaner in Mittel- und Süditalien, die aus Angst vor Repressalien anonym mit der DW sprachen, sagten: Das Problem rassistisch motivierter Straftaten in ihrem Land sei nie anerkannt worden. Die politische Rhetorik auf höchster Ebene heize die Gewalt an und führe zu Angriffen wie in Civitanova Marche. Anhänger der Rechten hätten dieses Narrativ aufgegriffen und zu einem Einwanderungsthema gemacht. Der Rassismus in Italien sei institutionalisiert, sagen sie.

Rassistische Beleidigungen

So gaben alle 21 afrikanischen Eltern mit Wohnsitz in Norditalien, die für diesen Artikel befragt wurden, an, dass ihre Kinder in der Schule von ihren weißen italienischen Mitschülern mit unmenschlichen Namen beschimpft, mit Affen verglichen und verachtet würden. 

Spielszene Mario Balotelli mit Philipp Lahm
Italiens Fußballnationalspieler Mario Balotelli (hier 2012) wurde in Italien regelmäßig ausgebuht und mit Bananen beworfenBild: PanoramiC/imago

Solche Beleidigungen hat auch Justin, ein 45-jähriger nigerianischer Automobilexperte in Civitanova Marche erlebt. "Wir haben hier nicht die gleichen Rechte", sagt er zur DW. "Jemand hat mir einmal gesagt: 'Du bist ein alter Affe, verschwinde von hier, du bist zu dunkel'. Sie beschimpfen dich und fragen, was du hier machst. 'Wir brauchen dich hier nicht', sagen sie." 

Viele Afrikaner fühlten sich daher "psychisch geschädigt und unterdrückt", sagt Justin. Er selbst ignorierte die Hänseleien, weil er seinen Abschluss als Automechaniker machen wollte. "Ich will erfolgreich sein, also habe ich mich auf mich selbst konzentriert."

Plastiklächeln, Herzen voller Gift

Auch der Afrikaner Kennedy, 47, hat mit Anfeindungen aufgrund seiner Hautfarbe schlechte Erfahrungen gemacht. Er arbeitet seit 20 Jahren als Zusteller in Parma, einer Stadt in Norditalien. Für ihn sind einige Italiener "Menschen mit einem Plastiklächeln im Gesicht, aber einem Herz voller Gift". Dieser Eindruck geht zurück auf eines seiner Erlebnisse: "Ich lieferte einer Kundin Elektronikartikel, und sie hat mir sogar einen Kaffee angeboten, den ich angenommen habe. Als ich ging, rief sie im Büro an, dass sie beim nächsten Mal keinen Schwarzen mehr zu ihrem Haus schicken sollten."

Aus dem Englischen adaptiert von Martina Schwikowski.