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Putin will die Verbrechen Stalins vergessen machen

Miodrag Soric9. Mai 2005

Balten, Polen und Russen streiten über die Bewertung des 9. Mai 1945. Russland muss sich seiner Geschichte stellen. Doch Russland ist nicht die UdSSR. Das sollten Balten und Polen nicht übersehen, meint Miodrag Soric.

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Miodrag Soric

Der Sieg über Hitler-Deutschland gehört zur nationalen Erinnerungskultur der Russen. Alljährlich gedenken sie am 9. Mai dem Kriegsende - mit Paraden, mit Ehrungen der Veteranen, mit pathetischen Reden über die Opfer des "Großen Vaterländischen Krieges". Kein anderes Land entrichtete einen so großen Blutzoll bei der Niederschlagung der Diktatur Hitlers wie die inzwischen untergegangene UdSSR. Viele Traditionen aus der Sowjetzeit leben in Russland ungebrochen weiter, darunter auch die Feier anlässlich des 9. Mai.

Der Einladung des russischen Präsidenten Wladimir Putin zur Teilnahme an den Siegesfeiern nach Moskau sind 53 Staats- und Regierungschefs gefolgt. Darunter auch Bundeskanzler Gerhard Schröder und der japanische Regierungschef Junichiro Koizumi. Beide Politiker vertreten Staaten, die einst zu den Kriegsgegnern der Sowjetunion gehörten. Doch diese Geste der Versöhnung droht kaum nochwahrgenommen zu werden.

Unterschiedliche Bewertung des 9. Mai 1945

In den Vordergrund geschoben hat sich ein Streit zwischen Moskau und den baltischen Staaten. Im Kern geht es um die Frage, wie der 9. Mai 1945 zu bewerten sei. Putin besteht - wie einst die Kremlchefs zu sowjetischen Zeiten - darauf, dass der Sieg über Hitler ausschließlich als Befreiung Europas von der nationalsozialistischen Diktatur zu interpretieren sei. Die baltischen Staaten, unterstützt durch die USA und Polen, verweisen auf das, was dem 9. Mai 1945 folgte: die Ausdehnung der kommunistischen Diktatur in Osteuropa, die Schrecken der stalinistischen Diktatur. So weit geht der Zwist, dass die Staatsoberhäupter Estlands und Litauens die Feierlichkeiten in Moskau boykottieren. Wie konnte es soweit kommen?

Ein Blick zurück: Der frühere russische Präsident Boris Jelzin bekannte sich einst in Budapest zur sowjetischen Schuld bei der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes von 1956. Solche Worte kämen dem jetzigen Kremlchef kaum über die Lippen. Putin trauert der UdSSR nach, vor allem ihrem Status als Weltmacht. Er will den Sieg über Hitler-Deutschland feiern und gleichzeitig die Verbrechen Stalins vergessen machen - ein Unterfangen, das den Widerspruch der Balten provozieren musste.

Unlängst bezeichnete der Kremlchef das Auseinanderbrechen der Sowjetunion als die "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts". Die baltischen Staaten, aber auch Polen, Tschechien, Ungarn oder die Slowakei empfinden das aber ganz anders. Der Zerfall der östlichen Weltmacht ist für sie gleichbedeutend mit der Befreiung von Moskaus Vorherrschaft.

Feindbild Moskau

Putin nährte in den vergangenen Jahren das Misstrauen der Mittel- und Osteuropäer gegenüber Russland gleich mehrfach: Er stärkte die Rolle der Sicherheitskräfte in Staat und Gesellschaft, wobei er bewusst an die Traditionen und Mythen aber auch an die politischen Lügen des Unrechtsstaates UdSSR anknüpfte. Er hielt - etwa in den Schulbüchern - an einer Geschichtsschreibung fest, die sich nur unwesentlich von der unterscheidet, die einst die Sowjetunion propagierte. So hatten die Balten oder Polen es leicht, ihr Feindbild Moskau weiter zu pflegen.

Soweit hätte es nicht kommen müssen. Fakt ist: 27 Millionen Sowjetbürger mussten im Kampf gegen den Nationalsozialismus ihr Leben lassen. Ein gewaltiges Opfer in der Geschichte der Menschheit. Fakt ist auch: Es war die Rote Armee, die die Wehrmacht an der Ostfront schlug und dem Morden im Konzentrationslager Auschwitz ein Ende setzte. Deshalb ist der 9. Mai 1945 natürlich ein Tag der Befreiung.

Auch die dunklen Kapitel müssen beleuchtet werden

Doch das ist eben nur eine Seite der Medaille. Der Sieg der Sowjetunion zementierte und erweiterte die Macht Stalins, unter der die Mittel- und Südosteuropäer zu leiden hatten,
aber auch das russische Volk. Balten und Polen sollten indessen nicht übersehen, dass bei aller Anlehnung Putins an sowjetische Traditionen Russland eben nicht die UdSSR ist, sondern ein Staat, der - bei allen Schwierigkeiten und Vorbehalten - sich für eine demokratische Entwicklung ausgesprochen hat.

Nicht nur den Osteuropäern fällt es schwer, sich zu allen Kapiteln ihrer Geschichte zu bekennen. Die meisten Völker neigen dazu, die dunklen Seiten ihrer Geschichte entweder zu leugnen oder sie umzudeuten. Gerade das aber lehrt der 9. Mai 1945: Wer aus der Geschichte lernen und echte Versöhnung will, der darf sie nicht verfälschen.