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USA weisen NS-Täter aus - und Deutschland?

Ben Knight
8. April 2021

Der Fall des ehemaligen KZ-Wächters Friedrich Karl B. unterstreicht, wie unterschiedlich die USA und Deutschland mit Holocaust-Tätern umgehen. Der 95-Jährige wird seinen Lebensabend in Deutschland verbringen.

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Blick auf ein rotes Gebäude mit vielen Fenstern hinter einem Stacheldrahtzaun mit Betonpfeilern
Friedrich Karl B. war als Wache im Lagersystem des KZ Neuengamme eingeteilt, das heute eine Gedenkstätte istBild: picture-alliance/dpa/M. Gambarini

Der 95-jährige Friedrich Karl B. muss keinen Prozess in Deutschland fürchten. Am 20. Februar dieses Jahres war der ehemalige Wächter in einem Konzentrationslager vom US-Bundesstaat Tennessee nach Frankfurt am Main ausgeliefert worden, nachdem ein US-Gericht ihn für schuldig befunden hatte, ein Holocaust-Täter zu sein.

B. hatte gestanden, als KZ-Wächter gedient zu haben, sagte allerdings einer US-Einwanderungsbehörde, er habe weder die Misshandlung von Gefangenen miterlebt, von Todesfällen gewusst, noch die Märsche zur Evakuierung des Lagers bewacht. In Deutschland angekommen gab B. bekannt, dass er nicht gewillt sei, noch einmal auszusagen.

Da es keine überlebenden ehemaligen Häftlinge mehr gibt, die als Zeugen gehört werden könnten, stellte die Generalstaatsanwaltschaft Celle am 31. März das Verfahren ein: Es gebe keine Beweise, damit war der Fall erledigt. B., der seit 1959 in den USA gelebt hatte, wird nun vermutlich den Rest seines Lebens in Deutschland verbringen.

Christoph Heubner, geschäftsführender Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees in Berlin, findet es "seltsam", dass die US-amerikanische und deutsche Justiz zu so unterschiedlichen Bewertungen des Falls kommen: "Wenn die Amerikaner Leute zurückschicken, ist es die Pflicht der deutschen Staatsanwaltschaften, das aufzuklären", sagt er der DW.

Zwei Sichtweisen auf Schuld und Beweise

Doch die Zurückhaltung der deutschen Behörden, den Fall anzugehen, ist nicht unüblich: In den vergangenen vier Jahrzehnten wurden 70 alternde Nazi-Täter aus den USA nach Deutschland überführt - die überwältigende Mehrheit hat niemals ein deutsches Gericht zu Gesicht bekommen.

Viele verbringen ihren Lebensabend auf Kosten der Steuerzahler im Altenheim wie Jakiw Palij - der 95-jährige SS-Kollaborateur wurde 2018 nach langen diplomatischen Querelen von seiner Heimat New York nach Deutschland gebracht.

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Das Gesetz, das in den USA zur Anwendung kommt, geht zurück auf eine Novelle des Einwanderungsgesetzes im Jahr 1978. Demnach können die USA jeden ausweisen, der sich nachweislich an NS-Verbrechen beteiligt hat - wobei dies nur gilt, wenn es ein Land gibt, das sich bereit erklärt, den Täter aufzunehmen.

In Deutschland hingegen gibt es kein Gesetz, das sich explizit mit Holocaust-Verbrechen befasst. Auch Jahrzehnte nach dem Krieg können ehemalige Nationalsozialisten nur wegen Mordes oder Beihilfe zum Mord verurteilt werden. Alle anderen Verbrechen - Vergewaltigung, Entführungen, Folter oder Totschlag - sind inzwischen verjährt. Und es ist schwierig, konkrete Verbrechen nachzuweisen.

Thomas Walther weiß das sehr genau. Der 77-jährige Anwalt und ehemalige Richter hat eine wichtige Rolle dabei gespielt, in den vergangenen 20 Jahren ehemalige Nazis in Deutschland aufzuspüren und zu verurteilen. Häufig hatte Walther damit zu kämpfen, die Unwägbarkeiten der deutschen Gesetzgebung den Holocaust-Überlebenden zu erklären, die er vertreten hat.

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"In einer US-Einwanderungsbehörde reicht es aus, zu dem Schluss zu kommen, dass der Angeklagte lügt", sagt er der DW: "Dass er seine Nazi-Vergangenheit geheim gehalten hat und in irgendeinem Konzentrationslager gedient hat, welches auch immer dieses gewesen sein mag und was auch immer dort tatsächlich passiert ist."

In Deutschland hingegen brauchen Staatsanwälte Beweise für ein bestimmtes Verbrechen, um überhaupt Hoffnung auf Erfolg zu haben. Und dafür muss ein Tatort ausgemacht werden. "Man muss beweisen, dass er [ein Wächter] in Lager X war und nicht in Lager Y", sagt Walther: "Nur, wenn ich einen Tatort habe, kann ich auch den Haupttatbestand bestimmen - den Mord an bestimmten Menschen zum Beispiel. Und dann muss man die Frage beantworten: Auf welche Art und Weise hat der Beschuldigte Beihilfe zum Mord geleistet?"

Der Fall des KZ-Wächters Friedrich Karl B.

Das macht es für die Ermittler und Staatsanwälte sehr schwierig, besonders, wenn es - wie im Fall Friedrich Karl B.s - darum geht, Ereignisse aufzuklären, die sich in den Wirren Norddeutschlands am Ende des Krieges abspielten.

Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme hat dabei eine entscheidende Rolle gespielt, insbesondere der dortige Chefhistoriker Reimer Möller. Er war es, der der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg eine Liste schickte. Sie beinhaltet B.s Namen und wurde bei der Bergung eines im Mai 1945 von der Royal Air Force versenkten Schiffes gefunden.

Blick auf ein altes Schwarz-Weiß-Foto: das Passbild eines jungen Manns mit kurzen dunklen Haaren, der nicht in die Kamera blickt
Friedrich Karl B. hat gestanden, als KZ-Wächter gedient zu habenBild: Jose Romero/US Departement of Justice/AFP

Mit diesem Beweismittel konnte Möller das zusammenfügen, was über B.s Geschichte bekannt ist: Im Januar 1945 wurde B. demnach als 19-jähriger Marinesoldat von der SS als Wachmann in zwei Meppener Konzentrationslager geschickt, die Teil des "Systems" Neuengamme waren, das sich über mehr als 80 Lager von Hamburg bis an die Nordseeküste erstreckte.

B. bewachte Häftlinge auf der Insel Langeoog, einem der vielen Orte, an denen Juden, Dänen, Polen, Russen, Italiener und andere Zwangsarbeiter gezwungen waren, riesige Verteidigungsanlagen entlang der deutschen Grenze im Norden zu errichten. Nach Erkenntnissen der Gedenkstätte Neuengamme starben Hunderte Menschen, weil ihnen ausreichend Nahrung, Kleidung und Schutz fehlten.

Ein vorsitzender US-Richter befand außerdem, dass die Gefangenen der Meppener Lager unter "grauenhaften" Bedingungen festgehalten wurden und "bis zur Erschöpfung und zum Tod" arbeiten mussten. Allerdings ist sich niemand sicher, wo B. genau eingesetzt war. Die Lager wurden im März 1945 evakuiert. Es ist bekannt, dass mindestens 70 Menschen auf den folgenden sogenannten Todesmärschen starben. Doch Friedrich Karl B. bestreitet, diese Märsche bewacht zu haben und Möller kann nicht mit Sicherheit sagen, dass B. einer der Marinesoldaten war, die die Gefangenen auf den Märschen bewachten. 

Mangelnder Wille in Deutschland

Das ist ein Problem, das Eli Rosenbaum bekannt vorkommt. Rosenbaum ist womöglich der zentrale Ermittler beim Aufspüren von Holocaust-Tätern in den USA. Seit drei Jahrzehnten "jagt" Rosenbaum Nazis - auch, wenn er den Begriff "Nazi-Jäger" selbst nicht gerne gebraucht. Zuerst war er Direktor der Justiz-Behörde "Office of Special Investigations". Seit elf Jahren leitet er die im Justizministerium angesiedelte Abteilung für "Human Rights Enforcement Strategy and Policy".

Rosenbaum sagt, der Mangel an politischem Willen in Deutschland habe zu erheblicher Frustration geführt. "Das größere Problem mit der deutschen Regierung über die Jahrzehnte hinweg war, dass sie sich häufig geweigert haben, Menschen aufzunehmen, die wir auf Grund ihrer Beteiligung an Nazi-Verbrechen abschieben wollten", sagt er der DW.

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"Sie sagen uns dann normalerweise: Tut mir leid, aber diesen Fall können wir nicht verfolgen - unsere Vorgehensweise ist es, nur Menschen aufzunehmen, die wir auch strafrechtlich verfolgen können", berichtet Rosenbaum: "Das führte dazu, dass eine ganze Reihe Nazi-Verbrecher in den USA gestorben sind, obwohl wir die Fälle vor Gericht gewonnen haben und bewiesen haben, dass sie sich an Nazi-Verbrechen beteiligt haben. Aber Deutschland war nicht willens, sie aufzunehmen."

Die Botschaft der Verfolgung

Viele der über 100 NS-Verbrecher, die seine Organisation aufspürte, hat Rosenbaum selbst interviewt. "Je später die Fälle vor Gericht gebracht werden, umso stärker ist die Botschaft", sagt er: "Wenn du es wagst, solche Verbrechen zu begehen, besteht die sehr reelle Chance, dass dich die Überreste der zivilisierten Welt, solange es nötig ist, deshalb verfolgen werden."

Für Rosenbaum gibt es keinen Grund, warum 90-Jährige nicht vor Gericht gebracht werden sollten, unabhängig davon, wie klein ihre Rolle im Holocaust gewesen sein mag. "Ich habe nicht die Angewohnheit, sie einzustufen", sagt er: "Für das einzelne Opfer war dies der wichtigste Täter. Alle diese Fälle senden eine entscheidende Botschaft."

Diese Botschaft sei simpel, erläutert er. Sie richte sich an potenzielle Beteiligte zukünftiger Gräueltaten: Diese Taten werden nicht vergessen werden.

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen übersetzt. 

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