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"Uns läuft die Zeit davon"

Uta Steinwehr
1. Dezember 2018

Seit 60 Jahren spürt die Zentrale Stelle in Ludwigsburg mutmaßliche Verbrecher des Nationalsozialismus auf. Übrig geblieben sind die kleinen Lichter. Trotzdem lohnt sich die Arbeit noch, findet Chefaufklärer Jens Rommel.

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Ankunft ungarischer Juden in Auschwitz Birkenau 1944
Bild: imago/Reinhard Schultz

Deutsche Welle: Der Zweite Weltkrieg ist vor 73 Jahren zu Ende gegangen. Dementsprechend hoch ist das Alter mutmaßlicher Täter. Wie viel Arbeit haben Sie noch?

Jens Rommel: Die Zentrale Stelle in Ludwigsburg hat derzeit so viel Arbeit wie seit vielen Jahren nicht mehr. Es ist so, dass sich der Ansatz der Rechtsprechung geändert hat, zuletzt in dem Verfahren gegen Oskar Gröning, den sogenannten Buchhalter von Auschwitz. Wir können heute Personen schon dann verfolgen, wenn sie durch ihre allgemeine Dienstausübung zum Beispiel in einem Lager die Vernichtungsmaschinerie am Laufen gehalten haben. (Zuvor galt der Grundsatz, dass eine unmittelbare Tatbeteiligung nachgewiesen werden musste, Anm. d. Red.) Durch diesen weiten Ansatz kommen theoretisch sehr viele Personen in Betracht. Leider müssen wir in fast allen Fällen feststellen, dass die Person nicht mehr am Leben oder nicht mehr verhandlungsfähig ist.

Wie viele mutmaßliche Verbrecher finden Sie noch?

Jens Rommel, Behördenleiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS- Verbrechen
Oberstaatsanwalt Jens RommelBild: picture alliance/dpa/S. Gollnow

Die Zentrale Stelle hat in den letzten Jahren im Schnitt knapp 30 Verfahren pro Jahr an die Staatsanwaltschaften abgegeben. Das sind Verfahren, bei denen wir den Verdacht eines Mordes oder einer Beteiligung an einem Mord beschreiben können und bei dem der Beschuldigte noch lebt. Ob jemand noch verhandlungsfähig ist, sich also vor Gericht verteidigen könnte, muss die Staatsanwaltschaft überprüfen.

Die Zeit spielt sozusagen gegen Sie. Frustriert Sie das?

Es ist tatsächlich eine paradoxe Situation. Eigentlich sollte es nach 70 Jahren bei den Ermittlungen auf einen einzelnen Tag nicht mehr ankommen. Und trotzdem läuft uns die Zeit davon. Für meine Kollegen und mich ist das manchmal frustrierend zu sehen, in wie vielen Fällen wir heute nicht mehr ermitteln können, weil die Person nicht mehr am Leben ist, aber man vor einigen Jahren vielleicht noch eine Chance gehabt hätte, oder wenn man besonders viel Arbeit in einen Fall gesteckt hat, dieser dann nicht mehr zu Gericht kommt, weil sich herausstellt, dass der Beschuldigte nicht mehr verhandlungsfähig ist. Wir motivieren uns aber nicht mit der Zahl der Fälle, die wir noch aufklären können, sondern wir glauben auch, dass das Bemühen an sich eine sinnvolle Reaktion auf diese staatlichen Massenverbrechen ist.

Wäre der mögliche Täterkreis schon früher erweitert worden, hätten vermutlich mehr Menschen zur Rechenschaft gezogen werden können. Sehen Sie dabei die Justiz in der Verantwortung, dass sich die Rechtsauffassung erst so spät geändert hat?

Ich finde es schwierig, pauschal ganze Generationen von Juristen oder die Justiz als Institution einfach an den Pranger zu stellen. Letztlich muss die Justiz als Teil der Gesellschaft in jeder Generation ihre Antwort auf die Fragen finden, mit denen uns diese staatlichen Massenverbrechen konfrontieren.

Es stimmt aber: Wenn der weite Ansatz richtig ist, sind sehr viele Personen davongekommen, die es viel mehr verdient hätten vor Gericht gestellt zu werden als die Personen, die wir jetzt noch verfolgen können. Es leben nur noch die, die damals die Jüngsten waren und in der Rangfolge weit unten standen.

Münster - Prozess gegen ehemaligen SS-Wachmann
Seit November steht ein ehemaliger SS-Wachmann wegen hundertfacher Beihilfe zum Mord in Münster vor GerichtBild: picture-alliance/dpa/G. Kirchner

Die Zentrale Stelle gibt es seit 60 Jahren. Gerade in den Anfangsjahren wurde sie teils als Nestbeschmutzer angefeindet. Später gab es die gegenteilige Kritik, dass die Stelle nicht genug tun würde. Sie selbst sind seit drei Jahren an der Spitze. Wie fällt rückblickend Ihr Fazit über die Arbeit Ihrer Behörde aus?

Die Bilanz fällt gemischt aus. Sie haben die Schwierigkeiten schon angesprochen, die mit dem juristischen Handwerkszeug aber natürlich auch mit der Gesellschaft zusammenhängen. In den fünfziger und sechziger Jahren ging es mehr um die Integration von schuldigen Personen als um eine umfassende Aufarbeitung. Bedrückend kann einen stimmen, dass nach 60 Jahren Zentraler Stelle immer noch nicht alles aufgeklärt ist und schon gar nicht alle Personen zur Verantwortung gezogen werden konnten. Ermutigend finde ich, dass erst aufrechte Demokraten, dann die Justiz nach und nach und schließlich auch die Gesellschaft sich dieser Verbrechen angenommen haben und sich dieser Aufgabe bis heute stellen.

Kann überhaupt jemals alles aufgeklärt werden?

Die Zentrale Stelle kann genau wie Staatsanwaltschaften und Gerichte nur solange arbeiten, wie noch Beschuldigte am Leben und verhandlungsfähig sind. Wir haben keinen umfassenden historischen Auftrag, die Verbrechen aufzuklären. Und ich bin mir sicher, dass es uns in den verbleibenden Jahren nicht gelingt, alles mit juristischen Mitteln aufzuarbeiten.

Erlebt die Stelle Ihrer Meinung nach noch ihren 70. Jahrestag?

Die Beschuldigten sind derzeit zwischen 91 und 99 Jahre alt. Jedes Jahr fällt uns sozusagen ein Jahrgang weg, den wir noch verfolgen können. Ich habe keine Kristallkugel und denke, dass wir noch einige Jahre hier sinnvoll Vorermittlungen vorbereiten können. Wann aber genau die Stelle in einen Forschungs- und Informationsort umgewandelt wird, das haben letztlich die Justizminister politisch zu entscheiden, die die Zentrale Stelle tragen.

Oberstaatsanwalt  Jens Rommel leitet seit 2015 die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Nach Vorermittlungen leitet die Stelle die aufgearbeiteten Fällen an die entsprechenden Staatsanwaltschaften weiter. Sie arbeitet seit dem 1. Dezember 1958.

Das Interview führte Uta Steinwehr