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Deutschlands Leid mit der NS-Raubkunst

20. Juni 2021

Nach Jahrzehnten kehrt ein geraubtes Heckel-Gemälde zu den Erben zurück - während weitere Raubkunst unaufgeklärt bleibt. Zeit für ein Restitutionsgesetz?

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Raubkunst - ein US-Soldat sichtet 1945 die Sammlung des Nazi-Politiker Hermann Göring
Raubkunst - ein US-Soldat sichtet 1945 die Sammlung des Nazi-Politikers Hermann Göring Bild: CPA Media/Pictures From History/dpa/picture alliance

Zwei junge Menschen lehnen aneinander, die ernsten Blicke in die Ferne gerichtet, wie zwei Wartende. Der deutsche Expressionist Erich Heckel (1883-1970) hat seine "Geschwister" im Jahre 1913 gemalt, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als wäre er ein Prophet der Apokalypse, in düsteren gedeckten Farben. Jetzt hat die Kunsthalle Karlsruhe das Ölgemälde in die USA geschickt, wo es künftig im Virginia Museum of Fine Arts in Richmond zu sehen sein soll. So wollen es die Erben des jüdischen Historikers Max Fischer, der "Die Geschwister" bis 1934 besessen hat.

Vielfach war das Heckel-Gemälde auf internationalen Kunstausstellungen zu sehen - auf der Biennale in Venedig (1952) ebenso wie auf der documenta in Kassel (1955). Die Sammlung Fischer gehörte zu den wichtigsten deutschen Privatsammlungen expressionistischer Kunst. Dass das Bild nun seine aufsehenerregende USA-Reise antreten konnte, verdankt es einer Empfehlung der sogenannten Limbach-Kommission. Die von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden eingesetzte Expertenkommission für NS-Raubgut ging von einem "NS-verfolgungsbedingten Entzug aus". Tatsächlich setzten die Nationalsozialisten Fischer wegen seiner jüdischen Abstammung zu. 1935 verließ er Deutschland, ein Jahr später emigrierte er in die USA.

Erich Heckels Gemälde "Geschwister" von 1913 zeigt zwei junge Frauen, die aneinandergelehnt in die Ferne schauen
Erich Heckels "Geschwister" von 1913Bild: Nachlass Erich Heckel, Hemmenhofen

Seltsamerweise war es Erich Heckel selbst, in dessen Keller sich Fischers "Geschwister" bei Kriegsende befand, sodass er es 1967 der Kunsthalle Karlsruhe schenken konnte. Aber wie war es in Heckels Besitz gelangt - obwohl doch die Nazis expressionistische Bilder als "entartet" verfemten? Hat er sein Bild von Fischer zurückgekauft? Hat er gar die Notlage der Sammlerfamilie ausgenutzt? Oder einen marktgerechten Preis bezahlt, wie die Kunsthalle Karlsruhe vermutet? Entscheidende Fragen bleiben offen. Dennoch plädierte die Limbach-Kommission für Rückgabe, eben weil sie annahm, dass Fischer Unrecht geschehen war.

Ausgeklügeltes Beschaffungsystem

Der Maler Erich Heckel schaut 1949 in die Kamera
Der Maler Erich HeckelBild: akg-images/picture-alliance

 Am Fall des Heckel-Bildes, obwohl einigermaßen speziell, lässt sich studieren, wie breit und komplex das Feld der NS-Raubkunst noch heute ist, 88 Jahre nach der Machtergreifung Hitlers und 76 Jahre nach dem Untergang des sogenannten Dritten Reiches. Klar ist, dass die Nazis zwischen 1933 und 1945 ein ausgeklügeltes Beschaffungssystem für Raubkunst betrieben. Sie bedienten sich einer Vielzahl gesetzlicher Regelungen, diverser Behörden und sogar eigens dafür eingerichteter Institutionen. Dem Raub fielen vor allem Juden und als Juden Verfolgte zum Opfer - im Deutschen Reich ebenso wie in den von den Deutschen besetzten Gebieten.

Nutznießer waren nicht selten höchste Nazi-Chargen, die wertvolle Sammlungen aufbauten, allen voran Adolf Hitler, der sich selbst als Kunstfreund und Mäzen sah. Dabei frönten sie dem Schönheitsideal einer "Deutschen Kunst". Expressionisten, Dadaisten, Künstler der Neuen Sachlichkeit, des Surrealismus oder des Kubismus wurden als "entartet" verpönt, auch die Werke Erich Heckels.

Joseph Goebbels auf der Ausstellung "Entartete Kunst" in Berlin
Die Nazis ließen allein arisch-deutsche Kunst gelten. Joseph Goebbels besuchte 1938 die Ausstellung "Entartete Kunst" in Berlin. Bild: Zentralarchiv - Staatliche Museen zu Berlin

Im Londoner Viermächte-Abkommen von 1945 brandmarkten die Hauptalliierten des Zweiten Weltkriegs die Kunstdiebstähle als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Ihr ganzes Ausmaß förderte jedoch erst im Jahr 2000 ein Bericht des US-Historikers und Holocaust-Forschers Jonathan Petropoulos für den US-Kongress zutage: Nach Petropoulos' Schätzung wurden im Einflussbereich der Deutschen zwischen 1933 und 1945 insgesamt etwa 600.000 Kunstwerke gestohlen, allein ein Drittel in Deutschland und Österreich. Vermögen wurden beschlagnahmt, jüdische Kunstsammler zum Verkauf unter Wert gezwungen, spätestens wenn sie - wie Max Fischer – zur Flucht außer Landes genötigt wurden. Viele der Objekte sind bis heute verschollen: Bis zu 10.000 Kunstwerke verbergen sich noch in öffentlichen Sammlungen und Privatbesitz weltweit, wie der Münchner Rechtsexperte Hannes Hartungschätzt.

Die Washingtoner Erklärung 

So scheinbar eindeutig die Vorgänge im Dritten Reich, so schwierig ist der Umgang mit Raubkunst heute. "Faire und gerechte Lösungen" für die Nachfahren und Erben der einst Bestohlenen zu finden, das wollten 44 Staaten, die sich 1998 bei der "Washington Conference on Holocaust-Era Assets" ("Washingtoner Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust ") auf die - völkerrechtlich nicht bindende - "Washingtoner Erklärung" verständigten. Deutschland verpflichtete sich, seine staatlichen Museumsbestände nach NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgütern zu durchforsten und aufgefundene Kunstwerke an die rechtmäßigen Eigentümer zurückzugeben. 

Die Juristin Jutta Limbach
Lieh der Schlichtungskommission zur NS-Raubkunst ihren Namen: die hochangesehene Juristin Jutta Limbach Bild: Rainer Jensen/dpa/picture alliance

Ein individueller, einklagbarer Rückgabeanspruch ließ sich daraus jedoch nicht ableiten. Überhaupt ziehen Experten eine kritische Bilanz des Vorhabens, wie schon 2018 auf einer internationalen Konferenz im Berliner Haus der Kulturen der Welt deutlich wurde. Nur auf Selbstverpflichtung zu hoffen, reiche nicht aus, bemängelte etwa der Philosoph Gunter Gebauer von der Freien Universität Berlin. In den ersten 40 Jahren seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland habe man nicht daran gedacht, die geraubte Kunst freiwillig zurückzugeben. "Nur auf die moralischen Triebe der Kunstbesitzer zu warten, ist ein bisschen blauäugig", so Gebauer im Deutschlandfunk Kultur, "Wir brauchen, glaube ich, ein Gesetz."

Raubkunst – Spitze des Eisbergs

Ein solches Restitutionsgesetz aber gibt es - anders als in Österreich - bis heute nicht in Deutschland. Um Streitfälle rund um die Restitution von Raubkunst kümmert sich einstweilen die sogenannte "Limbach-Kommission", benannt nach ihrer ersten Vorsitzenden, der hochangesehenen Juristin Jutta Limbach. Zuletzt sorgte im Januar 2021 eine wertvolle Guarneri-Geige für Schlagzeilen, weil die Franz Hoffmann und Sophie Hagemann-Stiftung das vermeintliche Raubgut bisher nicht an die Erben des Speyerer Musikalienhändlers Felix Hildesheimer zurückgegeben hat - entgegen der Empfehlung der Limbach-Kommission.

Umstrittene Rückgaben

Ein spektakulärer Restitutionsfall der jüngsten Zeit betraf das Kirchner-Gemälde "Berliner Straßenszene" von 1913. Der Berliner Senat ließ das Bild im August 2006 restituieren, was in Medien und Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung entfachte. Der Fall führte aller Welt vor Augen, welche Rechtsunsicherheit moralisch verpflichtende, aber juristisch unverbindliche Grundsätze auslösen können.

Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg
Hilft bei Fällen von NS-Raubkunst: Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste in MagdeburgBild: picture-alliance/dpa/J. Wolf

Hilfe beim Aufspüren von NS-Raubkunst bietet deshalb seit Jahren das "Deutsche Zentrum Kulturgutverluste" in Magdeburg, etwa mit ergiebigen Datenbanken, darunter das öffentlich zugängliche "Lost Art Register", mit umfassender Provenienzforschung wie im ebenfalls sensationellen Fall Gurlitt oder auch durch die Vernetzung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.

Auch eine "Handreichung für Museen und öffentliche Einrichtungen" findet sich auf der Webseite des Magdeburger Zentrums - die leider in einer entscheidenden Frage kaum weiterhilft: Für jeden Verkauf nach 1933 durch ein Opfer der NS-Diktatur wird vermutet, dass er verfolgungsbedingt zustande kam. Dies kann durch den Nachweis widerlegt werden, dass das Objekt einen angemessenen Kaufpreis erzielte. Welcher Preis aber war angemessen? Das seriös zu bewerten, ist im Rückblick - mangels Marktdaten - kaum mehr möglich, wie der Münchener Provenienzforscher Christian Fuhrmeistergegenüber dem "Handelsblatt" betont. Entscheidend ist, ob der Verkauf unter Druck erfolgte. Auch hier könnte ein deutsches Restitutionsgesetz mehr Klarheit bringen. Für Erich Heckels "Geschwister", soviel ist sicher, hat das Warten ein Ende.