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New York - Zwischen Panik und Party

Sophie Schimansky
18. November 2020

Corona hat die Weltmetropole verändert - aber nicht in ihrem Kern. Die New Yorker können nach wie vor feiern und zeigen sich dennoch verantwortungsbewusst. Eine Momentaufnahme. Von Sophie Schimansky, New York.

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Coronavirus USA | New York City
Bild: Shannon Stapleton/REUTERS

Ein Spaziergang durch Midtown Manhattan ist dieser Tage gespenstisch. Große Teile der Insel, dem Herzen New Yorks, gehören normalerweise den Touristen, das war schon immer so. Doch wenn die nicht mehr einfliegen können, dann ist es leer in Midtown. Die New Yorker arbeiten von zu Hause aus, so entsteht der Eindruck, als sei die Stadt ausgestorben.

Doch sie sind da, sie sitzen in ihren Apartments, hoch über den leeren Strassen. Hier unten flitzen Lieferanten auf ihren elektrischen Fahrrädern und liefern Pizza oder Sushi in den 20. Stock. Wo sonst der Verkehr tost, überquert eine alte Dame die 57. Straße - fernab jeder Ampel, zu Fuß, in gemächlichem Tempo. 

Die meisten Geschäfte sind mit Holzverschlägen verbarrikadiert, ob nun als Schutz gegen wütende Trump-Supporter, ebenso wütende Gegendemonstranten oder den aufziehenden Wirbelsturm. Gerade gab es eine Tornado-Warnung für New York City. Das ist denkbar selten. Aber es passt in diese Zeit, irgendwie.

Eine Frau ueberquert die 57. Strasse
57. Straße in Manhatten: Als sei die Stadt ausgestorbenBild: Sophie Schimansky/DW

Eine Pandemie, ein Wahldebakel mit unsicherem Ausgang, und nun eben auch noch ein Wirbelsturm. Grund genug, die Bürgersteige hochzuklappen. In einem geöffneten Geschäft herrscht Kleiderbügel-Chaos im Schaufenster. 80 Prozent Rabatt auf eine bekannte Designermarke! Und trotzdem ist keiner Menschenseele nach Shoppen zumute.

Die New Yorker tragen ihre Masken sehr konsequent

Die wenigen Menschen auf der Straße tragen konsequent Masken. Obwohl der scharfe Wind, mit dem sich der Tornado ankündigt, sicher jedes Aerosol sofort verweht. In der Nacht peitscht der Regen. 100.000 Menschen sind ohne Strom am Sonntagabend, eingesperrt in ihren Apartments in der Bronx, die es am schlimmsten getroffen hat.

Belohnt werden die New Yorker nach dem Tornado mit strahlendem Sonnenschein. Jeder Sonnenstrahl wird dieser Tage genutzt, steht uns allen doch ein dunkler und einsamer Winter bevor. Als ich meine Wohnung verlasse und auf den Bürgersteig trete, bin ich einmal mehr froh, nicht in Manhattan zu leben. Hier in Bushwick tobt das Leben - noch. Solange die Cafés und Restaurants offen sind, trotzen die New Yorker dem kalten Wind und sitzen dick eingepackt draußen vor Variety Coffee Roasters und trinken guten, viel zu teuren Kaffee aus Pappbechern.

Corona-Krise USA | New York City
Kaffeetrinker im Viertel Brooklyn-Bushwick: Jeder Sonnenstrahl wird dieser Tage genutztBild: Sophie Schimansky/DW

New York City steht auf der Kippe zu einem neuen Lockdown. Die Infektionszahlen steigen wieder, wenn auch weniger dramatisch als im Rest des Landes. Bürgermeister Bill de Blasio meldete am Wochenende die neuesten Zahlen. Etwa 900 neue Fälle innerhalb einer Woche, damit betrage der 7-Tage-Durchschnitt positiver Tests 2,47 Prozent. De Blasio drängt die New Yorker dazu, alles dafür zu tun, einen weiteren Anstieg zu verhindern: "Wir müssen eine zweite Welle verhindern, um unsere Schulen offen zu halten."

Sofort erntet er auf Twitter Kritik. Die Zahlen seien geschönt, um die Schulen nicht schließen zu müssen. Kinder im Klassenzimmer heißt arbeitende Eltern und mehr wirtschaftliche Aktivität und mehr Steuergeld im Stadthaushalt. Das weiß De Blasio. Doch wenn die Rate der positiven Tests auf über drei Prozent steigt, wird New Yorks Bürgermeister einen weiteren Lockdown nicht verhindern können. (Ab Donnerstag 19.11. sind Schulen geschlossen, die Rate der positiven Tests stieg auf über drei Prozent - die Redaktion)

Bis dahin wird Sonne getankt

Das wissen die jungen Leute und Familien, die in Bushwick leben, und strömen in großen Scharen in die Cafés und Parks. Der Maria-Hernandez-Park ist um jede Tageszeit voll, Menschen sonnen sich auf den Bänken, an Halloween kam hier eine regelrechte Party zustande. Noch immer schieben meist hispanische Frauen kleine Wagen und rufen unermüdlich "Nutcracker" - selbst gemischte Drinks aus Vodka, Tequila oder Rum mit Saft oder Getränkepulver für ein paar Dollar.

"Nutcracker" ist ein Code. Weil Trinken in der Öffentlichkeit verboten ist und streng geahndet wird. In der Pandemie sind die Polizisten vom New York Police Department aber immer wieder bereit, ein Auge zuzudrücken. Und die New Yorker behalten eine Institution.

Wartende vor der Test-Praxis Modern MD in Brooklyn
Wartende vor der Test-Praxis Modern MD in Brooklyn: Einmal um den Block SchlangestehenBild: Sophie Schimansky/DW

Vor einer Woche haben die Nutcracker-Verkäuferinnen wohl das Geschäft ihres Lebens gemacht. Die New Yorker kamen aus ihren Apartments, blass und müde, weil sie sich alle die Wahlnacht um die Ohren geschlagen hatten - und die war besonders lang. Sie trafen sich in Parks, im McCarren-Park in Brooklyn wurde am helllichten Tag Feuerwerk entfacht, Straßenkünstler spielten Livemusik, New Yorker tanzten und jubelten ausgelassen - der sich abzeichnende Wahlsieg des Demokraten Joe Biden sorgte für Sommerstimmung im November.

New Yorker, die ein Leben lang in dieser Stadt verbracht haben, schreiben in sozialen Netzwerken, sie hätten so eine Stimmung noch nicht erlebt. Im McCarren-Park war es so laut, dass man die vorbeifahrenden hupenden Autos kaum hören konnte. In Manhattan griffen Anwohner zu Töpfen und Besteck und machten Lärm.

Es war der lauteste Tag seit März. Es fühlte sich an, als sei ein Schleier von New York gezogen worden. Die New Yorker zeigten der Welt, sie sind vernünftig, wenn es sein muss. Aber ihre Stadt schläft nicht. Auch nicht nach sechs Monaten Pandemie.

Auf einen Test wartet man zweieinhalb Stunden

Innerhalb einer Woche hat die Stadt wieder von Party wieder auf Pandemie-Betrieb umgeschaltet. Manhattan ist wie leergefegt. In Brooklyn heißt das, business as usual, nur mit Maske. Hier ist die Rate derjenigen, die von zu Hause aus arbeiten können, deutlich geringer als in Manhattan. Deswegen sind die Infektionszahlen in Brooklyn auch immer noch höher.

Eine Frau putzt das Schaufenster ihrer Boutique, Paketboten und Zulieferer rollen Pakete auf Sackkarren. Die Bürgersteige sind nicht überfüllt, aber voll. An der Knickerbocker Avenue liegen einander gegenüber die beiden Notfall-Praxen City MD und Modern MD. Davor lange Schlangen, die beide bis um den Block reichen.

Weihnachtsangebot in Brooklyner Laden
Weihnachtsangebot in Brooklyner Laden: "Da müssen wir durch"Bild: Sophie Schimansky/DW

Einige haben sich kleine Campingstühle mitgebracht. Alle sind warm angezogen. Ich spreche den jungen Mann an, der an erster Stelle in einer der beiden Schlangen steht, wie lange er gewartet habe? "Zweieinhalb Stunden", sagt er. Viele wollen sich hier auf das Coronavirus testen lassen. Aber die Notfall-Praxen sind auch die erste Anlaufstelle für Unversicherte mit Erkältungen und gebrochene Knochen gleichermaßen. Die Preise hier sind günstig und man braucht keinen Termin. 

Pandemie-Panik und Weihnachtsstimmung liegen nah beieinander

In den Billigläden blinkt Weihnachtsdeko. Nächste Woche ist Thanksgiving, da beginnt bei den Amerikanern die Weihnachtsstimmung. Die New Yorker können dieses Jahr gar nicht früh genug anfangen, zu schmücken - die wenigsten werden Weihnachten wie gewöhnlich feiern, da hellt der ein oder andere Türkranz die Stimmung auf und sorgt für Normalität.

An Thanksgiving können wir schon mal üben, nein zu sagen, und die Feiertage ohne Familie und Freunde zu verbringen. Aber von Corona-Müdigkeit ist bei den New Yorkern keine Spur - es herrscht so etwas wie stillschweigende Einigkeit, dass wir da jetzt noch mal durchmüssen. Ich bin ein bisschen stolz auf die New Yorker. Ich kaufe mir einen silbernen Adventskranz für die Tür und schlendere nach Hause.