1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Nach der Flut: Wiederaufbau oder Wegziehen?

Natalie Muller | Neil King
15. November 2021

Vier Monate nach der Flutkatastrophe stehen immer noch 90 Prozent der Häuser in Dernau im Ahrtal leer. Die Sanierungsarbeiten sind in vollem Gange. Doch wie sinnvoll ist der Wiederaufbau in einer gefährdeten Region?

https://p.dw.com/p/42uhB
Deutschland Unwetter Dernau
Bei der Flutkatastrophe vom 14. Juli 2021 starben im Ahrtal mehr als 130 MenschenBild: Christoph Hardt/Future Image/imago images

Alfred Sebastian steht in dem Raum, der einmal seine Küche war. Es gibt keinen Fußboden mehr, die Wände im Erdgeschoss sind nackt - der Putz mühsam abgeschlagen. Mehrere Trocknungsmaschinen dröhnen rund um die Uhr.

Vier Monate nach der Hochwasserkatastrophe kämpfen die knapp 1800 Einwohner Dernaus immer noch damit, die Schäden zu beseitigen. Wie alle anderen versucht Alfred Sebastian, der auch Bürgermeister von Dernau ist, die Schreckensnacht vom 14. Juli zu verarbeiten. "Es ging alles so schnell, dass es keine Möglichkeit gab, sein Hab und Gut in Sicherheit zu bringen. Mit diesen Wassermassen hatten wir einfach nicht gerechnet", sagt er.

Die Region, die für ihre malerischen Weinberge bekannt ist, wurde verwüstet, nachdem ungewöhnlich heftige Regenfälle die normalerweise friedliche Ahr in einen reißenden Strom verwandelt hatten.

Bürgermeister Alfred Sebastian steht in seiner von der Flut zerstörten Küche
Bürgermeister Alfred Sebastian will den Wiederaufbau Dernaus möglichst nachhaltig gestaltenBild: Natalie Muller/DW

Als das Wasser nachts binnen kurzer Zeit seinen Keller und das Erdgeschoss überflutete, musste Sebastian in die oberen Stockwerke flüchten. Weil sein Haus etwas weiter oben am Hang steht, sei er dennoch ein bisschen besser dran als die vielen anderen, die in unmittelbarer Nähe zur Ahr wohnten, betont er. "Von denen mussten sich viele auf ihre Dächer retten." 

Mehr als 130 Menschen im Ahrtal kamen ums Leben - elf davon in Dernau. Der Sachschaden geht in die Milliarden. Rund 17.000 Menschen blicken auf Schäden an ihren Häusern oder haben Eigentum verloren. In Dernau selbst sind laut Sebastian 400 der 500 Häuser der Stadt derzeit unbewohnbar, 90 Prozent der Einwohner zwischenzeitlich ausgezogen. Sie stehen nun vor der Frage, ob sie den Wiederaufbau wagen oder die Region für immer verlassen sollen.

"Es gibt Leute, die ihr Haus bereits verkauft haben, weil sie das Geräusch von Regen nicht mehr ertragen können", sagt Sebastian. "Sie wollen nicht mit der ständigen Angst leben, dass sich diese Sturzflut wiederholen könnte. Ich selbst kann damit umgehen, aber ich muss zugeben, dass ich es immer im Hinterkopf habe." 

Welche Auflagen gelten für den Wiederaufbau?

Die Bundesregierung hat einen 30-Milliarden-Euro-Fonds zur Unterstützung der Flutopfer genehmigt. Die Behörden haben außerdem aktualisierte Karten der Überschwemmungsgebiete im Ahrtal veröffentlicht, aus denen hervorgeht, wo keine neuen Gebäude mehr gebaut werden dürfen. Nach Angaben der regionalen Behörden dürfen lediglich 34 Häuser im Ahrtal wegen des Hochwasserrisikos nicht mehr aufgebaut werden.

Zerstörte Infrastruktur und Häuser in Dernau
Durch die Flut sind 400 der 500 Häuser in Dernau unbewohnbar gewordenBild: Boris Roessler/dpa/picture alliance

Die meisten Bewohner des Überschwemmungsgebiets dürfen ihre Häuser renovieren und an derselben Stelle wieder aufbauen. Für Neubauten wird es künftig jedoch Einschränkungen geben. Die Details sind noch unklar, aber die Regulierungsbehörde sagte der DW, dass dies Maßnahmen wie etwa die Installation von Sicherungskästen in den oberen Stockwerken umfassen könnte. Auf diese Weise soll die Stromversorgung künftig bei einem überfluteten Keller nicht mehr unterbrochen werden.

Laut Sebastian ist es ebenfalls noch unklar, ob Menschen, die ihr Haus in einem ausgewiesenen Überschwemmungsgebiet wieder aufbauen, sich gegen Elementarschäden versichern können. Die Mehrheit der Dernauer hatte vor der Flut keine solche Versicherung, fügt er hinzu.

Mit dem Risiko leben, oder wegziehen?

Professor Christian Kuhlicke, Experte für Umweltrisiken und extreme Wetterereignisse am Leipziger Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, fordert einen "grundlegenden Wandel" in der Art und Weise wie in kleinen Flusseinzugsgebieten wie dem Ahrtal gebaut werden darf. "Sonst wird es sehr teuer und möglicherweise auch tödlich," warnt Kuhlicke.

Prof. Dr. Christian Kuhlicke
Professor Christian Kuhlicke emfpiehlt ein Umdenken in gefährdeten RegionenBild: Sebastian Wiedling/UFZ

Kuhlicke empfiehlt Grundstückseigentümern in der Region, in höher gelegene Gebiete zu ziehen. Er verweist auf die US-amerikanische Stadt Valmeyer, die nach einer verheerenden Überschwemmung im Jahr 1993 komplett aus dem Mississippi-Tal in die nahe gelegenen Hügel umgesiedelt wurde. 

"Jetzt ist es eine florierende Gemeinde in der Nähe der Grenzen von St. Louis", sagt er. "Wenn die Menschen also wirklich davon überzeugt sind, dass es eine kluge Entscheidung ist, aus dem Überschwemmungsgebiet wegzuziehen, sollten sie unterstützt werden." 

Im Falle des Ahrtals wünscht sich Kuhlicke mehr Regulierung, einschließlich von Anreizen für hochwassersichere Gebäude. Doch die Entscheidung über den Wiederaufbau oder die Umsiedlung bleibe den Bewohnern und Gemeinden weitgehend selbst überlassen, kritisiert der Experte für Umweltrisiken. "Das politische Signal ist, dass die Gemeinden im Tal bleiben sollen." 

Hochwasserschutz und Hochwasserhäuser 

Die Sturzfluten im Juli hätten zwar nicht verhindert werden können, weil die Regenmenge einfach zu groß war, aber es gebe Möglichkeiten, die Häuser so anzupassen, dass der Schaden künftig zumindest begrenzt werde, sagt Kuhlicke.

Zum Beispiel durch eine Trockenabdichtung von Häusern, also der Verstärkung von Türen, Fenstern und anderen Öffnungen, um das Eindringen von Wasser in das Gebäude zu verhindern. Oder durch sogenannten nassen Hochwasserschutz - der Verwendung von wasserfreundlichen Baumaterialien, die sich nicht mit Wasser vollsaugen und zerstört werden können, wenn Wasser in ein Gebäude eindringt. 

Haus in Dernau mit zahlreichen bunten Schriftzügen, die Solidarität und Hoffnung auf Wiederaufbau ausdrücken
Ein Wegzug für die meisten Bewohner von Dernau keine Option, sagt Bürgermeister SebastianBild: Natalie Muller/DW

"Wiederaufgebaute Häuser sollten zudem so konzipiert sein, dass sie den Klimawandel nicht negativ beeinflussen, indem sie CO2-Emissionen verursachen", sagt Kuhlicke. "Man kann nur hoffen, dass es dort wirklich gute Ingenieure und Architekten gibt, die den Menschen helfen, ihre Häuser so wieder aufzubauen, dass sie widerstandsfähiger und nachhaltiger sind.“

Aber es sind nicht nur die Häuser, die sich verändern müssen. Es müssten zudem Maßnahmen ergriffen werden, um in Zukunft mehr Wasser in der Landschaft zu halten, etwa durch den Bau von Rückhaltebecken flussaufwärts und in Seitentälern, um die Auswirkungen künftiger Überschwemmungen zu verringern.

Erneuerbare Energie statt Öl

Sebastian sieht den Wiederaufbau auch als Chance für Veränderungen. Eine Forschergruppe hat bereits einen Vorschlag vorgelegt, wie die Region bis zum Jahr 2027 bis zu 100 Prozent ihrer Energieversorgung aus erneuerbaren Energien gewinnen könnte: beispielsweise durch die Nutzung von Windkraft und von Solarpaneelen auf den ohnehin zu sanierenden Dächern. 

Alfred Sebastian steht an der Ahr wo einst die Bahnschienen verliefen
Brücken und Verkehrswege müssen ebenfalls saniert werden: Hier verliefen vor der Flutkatastrophe die BahnschienenBild: Natalie Muller/DW

Eine der wichtigsten Lehren aus dem Hochwasser sei jedoch, dass die Häuser in Dernau künftig nicht mehr mit Ölheizungen beheizt werden sollen, die derzeit in Deutschland von etwa einem Viertel der Haushalte genutzt werden. Bei der Überschwemmung wurden Sebastian zufolge viele Ölheizungen undicht - nun sind viele Häuser mit dem giftigen Schweröl verseucht. Dies hat den Gesamtschaden und die Kosten in die Höhe getrieben. Sebastian will ein regionalen Heizungsnetz aufbauen, das mit erneuerbarer Energie betrieben wird.

"Dafür braucht es aber staatliche Unterstützung", sagt er. "Wenn das Ahrtal eine Modellregion mit nachhaltiger Energieinfrastruktur werden soll, brauchen wir mehr Fördermittel, und zwar schnell, sonst holen sich die Menschen hier einfach wieder ihre alten fossilen Heizungen zurück."

Widerstandsfähig und nachhaltig zugleich?

Klimaforscher rechnen damit, dass extreme Wetterereignisse durch den Klimawandel in Zukunft weltweit stärker und häufiger auftreten werden. Der Bau von widerstandsfähigen Häusern und die Umstellung auf nachhaltigere Energieformen dürften angesichts dessen zweifellos wichtig sein. Doch was ist mit der Klimabilanz der beim Wiederaufbau verwendeten Materialien? 

Der Bausektor, einschließlich der Herstellung von Baumaterialien wie Beton und Stahl, war 2019 für fast 40 Prozent der weltweiten energiebezogenen Emissionen verantwortlich. 

"Widerstandsfähig und gleichzeitig nachhaltig zu bauen ist manchmal ein schwieriger Balanceakt, je nachdem welche Materialien man einsetzt", sagt Elizabeth Hausler, die Geschäftsführerin von Build Change, einer amerikanischen Nichtregierungsorganisation, die weltweit katastrophenresistente Häuser für Menschen baut, die durch Wirbelstürme, Überschwemmungen und Erdbeben gefährdet sind. 

"In hurrikangefährdeten Gebieten werden zum Beispiel schwere, robuste Betonblöcke bevorzugt", fügt sie hinzu. Beton gilt als zuverlässiges, klimaresistentes Material, doch allein der zu seiner Herstellung verwendete Zement ist für acht Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich.

Die Priorität müsse dennoch darin bestehen, den Verlust von Häusern von vornherein zu verhindern, betont Hausler - "damit wir durch den Wiederaufbau keinen erhöhten CO2-Fußabdruck haben".  

In Dernau sind die Straßen immer noch weitgehend leer und an vielen Gebäude ist immer noch eine braune Wasserlinie zu sehen, die zeigt, wie hoch der Fluss gestiegen war. Dennoch rechnet Bürgermeister Alfred Sebastian damit, dass 90 Prozent der Einwohner zurückkehren und ihre Häuser wieder aufbauen werden - ein Prozess, der wahrscheinlich Jahre dauern wird. 

"Dies war einmal ein Paradies", sagt er. "Jetzt, nach der Flut, ist es eher eine Wüste. Ich hoffe, dass wir in zehn Jahren besser dastehen als je zuvor, und dass wir nie wieder eine solche Flutkatastrophe erleben. Aber das kann natürlich niemand garantieren."