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PolitikEuropa

Völkerrecht bleibt ein Fremdwort für Erdogan

Erkan Arikan Kommentarbild App
Erkan Arikan
26. November 2022

Die Türkei macht für den Bombenanschlag in Istanbul die PKK und die YPG verantwortlich und bombardiert kurdische Stellungen. Ob die Türkei dabei das Völkerrecht bricht, ist Erdogan anscheinend egal, meint Erkan Arikan.

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Kampfjet der türkischen Luftwaffe am Abendhimmel
Türkische Kampfjets fliegen seit Tagen Angriffe gegen kurdische Stellungen im Nordirak und in NordsyrienBild: Eren Bozkurt/AA/picture alliance

Vergeltung ist für Recep Tayyip Erdogan immer ein probates Mittel, um der türkischen Bevölkerung zu zeigen, welch ein starker Machthaber er ist. Ob die Weltöffentlichkeit mit seinen Methoden ein Problem hat, scheint ihn nicht zu kümmern. Den jüngsten Anschlag in der Istanbuler Einkaufs- und Kulturmeile Istiklal, bei dem sechs Menschen zu Tode kamen, ist wieder einmal Anlass, Vergeltung zu üben. Als Drahtzieher des Anschlags sieht Ankara die in Westeuropa und den USA als Terrororganisation eingestufte PKK und die syrische Kurden-Miliz YPG. Beide weisen jegliche Verantwortung für den Anschlag zurück. Die Ermittlungen dauern noch an. Aber auf Ergebnisse wollte Erdogan nicht warten.

Ort der türkischen Militäroffensive seit Sonntag sind PKK-Stellungen im Nordirak und die von der YPG kontrollierten Gebiete in Nordsyrien. Laut Erdogan ist die türkische Luftwaffe bis zu 140 Kilometer in den Irak und 20 Kilometer nach Syrien eingedrungen. Bisher hat sie rund 500 kurdische Ziele in beiden Nachbarländern angegriffen und dabei nach eigenen Angaben mehr als 326 "Terroristen neutralisiert". Ob mit diesen Angriffen geltendes Völkerrecht verletzt wird, ist für Ankara unerheblich.

Kaum Reaktion aus Moskau und Washington

Sowohl Russland als auch die USA sind dieses Mal mit Kritik sehr vorsichtig. Alexander Lawrentjew, Syrien-Beauftragter des russischen Präsidenten Putin, mahnte Ankara lediglich, "von einer exzessiven Gewaltanwendung auf syrischem Staatsgebiet abzusehen". Die US-Regierung hingegen zeigt sich besorgt über die jüngsten türkischen Angriffe. Washington befürchtet, dass die Fähigkeiten der Kurden leiden könnten, weiter gegen den sogenannten Islamischen Staat zu kämpfen.

Erkan Arikan, Leiter der Türkisch-Redaktion
Erkan Arikan, Leiter der Türkisch-RedaktionBild: DW/B. Scheid

Für den Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats im Weißen Haus, John Kirby, eine heikle Situation. Die USA unterstützen die Kurden im Kampf gegen einzelne Zellen des IS, die in der Region noch sehr aktiv sind. Gleichzeitig sei aber die Türkei einer "terroristischen Bedrohung ausgesetzt", räumt Kirby mit Blick auf die PKK ein. Ankara habe natürlich jedes Recht, "sich und ihre Bürger zu verteidigen". Das hört sich jedoch eher nach einer Bitte, als nach einer Warnung an. Beim Treffen mit ihrem türkischen Amtskollegen sagte die deutsche Innenministerin Nancy Faeser, man stehe an der Seite der Türkei im Kampf gegen den Terrorismus, aber die Reaktion müsse verhältnismäßig sein: Zivilisten müssten geschützt und das Völkerrecht eingehalten werden. Auch das ist keine klare Verurteilung. 

Der Westen will derzeit einen Konflikt mit Erdogan vermeiden. Er wird schließlich gebraucht: in der Ukraine-Krise, aber auch für den Beitritt von Schweden und Finnland zur NATO -  hierfür ist die Zustimmung Ankaras notwendig. Auch Russland versucht, nicht mit Erdogan zu brechen. Und der türkische Präsident nutzt die Gunst der Stunde.  

Viele in der Türkei befürworten Bodenoffensive in Syrien

Eines ist klar: Der jüngste Terroranschlag in Istanbul ist verabscheuungswürdig und jeder zivilisierte Mensch steht an der Seite des türkischen Volkes im Kampf gegen den Terror. Aber solche schrecklichen Taten dürfen nicht instrumentalisiert werden. Die Reaktion Ankaras ist ein klares Zeichen an die türkische Bevölkerung: Wenn es auf türkischem Boden zu einem Anschlag kommt, sind alle anderen Probleme nachrangig. Ob es die Inflation, die marode Wirtschaft, die hohe Arbeitslosigkeit oder auch Korruptionsvorwürfe sind - Erdogan bekommt in dieser Situation sogar Unterstützung von der Opposition. Es wird an die nationalen Gefühle aller im Land appelliert. Und so befürwortet ein Großteil der türkischen Bevölkerung sogar eine Bodenoffensive türkischer Soldaten im Norden Syriens - entsprechend hat Erdogan eine neuerliche Drohung ausgesprochen. Dabei vermeidet er aber, einen klaren Zeitpunkt zu nennen.

Sicher ist: Sollte es zu einer Bodenoffensive kommen, werden die Kurden vorbereitet sein. Das sagte Mazloum Abdi, der Befehlshaber der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), des größten Verbündeten der USA im Krieg gegen den IS in Syrien. Seit 2019, als die Türken erstmals eine Bodenoperation in der Region durchführten, bereite man sich auf mögliche neue Angriffe vor. Abdi glaubt, dass seine Truppen jeden neuen Angriff abwehren können: "Zumindest werden die Türken nicht in der Lage sein, unsere Regionen zu besetzen und es wird eine große Schlacht geben." Eine Drohung, die nicht nur Ankara, sondern auch Europa aufmerksam registrieren sollte.