Die Entwicklung auf dem afghanischen Schlachtfeld lässt nur noch eine Wahrheit zu: Amerikas längster Krieg, an dem sich auch die NATO mit großem Aufwand beteiligt hat, ist gescheitert.
In den vergangenen Tagen ist es den militant-islamistischen Taliban gelungen, gleich mehrere Provinzhauptstädte im Norden Afghanistans einzunehmen. Darunter Kundus, die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, in der die Bundeswehr viele Jahre für die Sicherheit verantwortlich war.
Taliban als Sieger
Seit klar ist, dass sich die USA und ihre NATO-Partner bedingungslos zurückziehen, fühlen sich die Taliban als Sieger und benehmen sich auch so. Die Zahl der zivilen Opfer steigt dramatisch. Landesweit haben sich zwischen Mai und Juli nach UN-Angaben fast eine Viertelmillion Menschen zur Flucht entschlossen. Tendenz steigend. Viele suchen in der Hauptstadt Kabul nach Sicherheit. Andere sind fest entschlossen, über die beiden Nachbarländer Pakistan und Iran Europa zu erreichen.
Der seit vier Jahrzehnten ungelöste afghanische Bürgerkrieg ist wieder voll entflammt. Im Kern geht es dabei auch um die Frage, ob Afghanistan ein fundamentalistischer Gottesstaat sein soll oder nicht. Wie konnte es nur so weit kommen?
Die Schuldfrage
Die US-geführte Koalition hat es versäumt, mit den Taliban zu verhandeln, als sie ihren schwächsten Moment hatten. Das war unmittelbar nach ihrem Sturz im Winter 2001. Die westlichen Demokratien haben arrogant die Wurzeln des afghanischen Konflikts ignoriert und ihr militärisches und politisches Handeln allein an nationalen, innenpolitischen Faktoren orientiert. In den USA ging es am Anfang vor allem um Rache für die Terroranschläge vom 11. September 2001 und um die Jagd auf Osama bin Laden.
In Deutschland ging es zeitgleich darum, solidarisch an der Seite des wichtigsten Bündnispartners zu stehen und Afghanistan aufzubauen. So konnte man der wählenden Bevölkerung diesen Auslandseinsatz am besten verkaufen.
Der Rest ist Geschichte. Die Taliban fanden im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet zu neuer Stärke. Das westliche Bündnis ging zweifelhafte Partnerschaften mit brutalen Warlords ein, förderte Korruption und Amtsmissbrauch und trug den Krieg in die afghanischen Dörfer. Der Irak-Krieg lenkte ab und schuf neuen Terror. Die Jahre verstrichen, ein klares Ausstiegsszenario mit klaren Zielen gab es zu keinem Zeitpunkt, das US-Militär dominierte durchgehend Politik und Diplomatie.
Bedingungsloser Rückzug
Dann war es ausgerechnet der ehemalige US-Präsident Donald Trump, der aus innenpolitischen Erwägungen im Sommer 2018 doch formale Verhandlungen mit den Taliban aufnahm - ohne Einbeziehung der gewählten afghanischen Regierung, ohne große Rücksicht auf die NATO-Partner. Sein Nachfolger Joe Biden hat den bedingungslosen Abzug zementiert. Begründung: Von Afghanistan gehe keine internationale Terrorgefahr mehr aus. Ob das stimmt, wird erst die Zukunft zeigen.
Eine Rückkehr der NATO-Truppen auf das afghanische Schlachtfeld scheint ausgeschlossen. Was die USA und ihre Verbündeten jetzt noch tun können ist, maximalen politischen und finanziellen Druck auf die Taliban auszuüben. Auch sie werden Geld und Hilfe brauchen, sollten sie in Kabul die Macht übernehmen. Das bedeutet zwangsläufig auch, mit schwierigen Ländern wie Pakistan, Iran, China und Russland zusammenzuarbeiten. Der schnelle Vormarsch der Taliban ist ohne die helfende Hand Pakistans nicht zu erklären.
Moralische Verantwortung
Und Deutschland? Deutschland steht in der moralischen Pflicht, unbürokratisch und schnell den Menschen zu helfen, die mit deutschen Soldaten und zivilen Organisationen zusammengearbeitet haben. Viele könnten als mutmaßliche Verräter ins Visier der Fundamentalisten geraten. Exekutionen sind schon jetzt eine Realität. Doch die Bundesregierung scheut noch davor zurück, Ortskräfte und ihre Familien großzügig auszufliegen. Das ist beschämend. Genauso beschämend ist es, dass ein demokratisches und rechtsstaatliches Land wie Deutschland weiter daran festhält, abgelehnte Asylbewerber in den Krieg abzuschieben. Das Gebot der Stunde ist ein Abschiebestopp.
Es ist Zeit für die Wahrheit. Die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr haben in Afghanistan fast 20 Jahre lang einen politischen Auftrag erfüllt. Vor allem ihnen und den zivilen Opfern in Afghanistan sind es Regierung und Parlament schuldig, den bisher teuersten und blutigsten deutschen Auslandseinsatz schonungslos und unabhängig aufzuarbeiten. Damit sich Fehler nicht in anderen Einsätzen - wie aktuell in Mali - wiederholen.