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PolitikEuropa

Ein Stück Vertrauen zurückgewonnen

Rosalia Romaniec | DW Mitarbeiterin | Leiterin Current Politics
Rosalia Romaniec
16. Juni 2022

Die Reise des Bundeskanzlers in die Ukraine sollte dem Land Hoffnung und "ganz konkrete Dinge" bringen. Vielen schien sie eine "mission impossible", doch es kam besser, als befürchtet - meint Rosalia Romaniec.

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Ukraine | Olaf Scholz bei Wolodymyr Selenskyj und mit Emmanuel Macron
Demonstration der Einigkeit: Staatschefs in der UkraineBild: Sergei Supinsky/AFP/ Getty Images

Es war der Kanzler selbst, der die Latte für seine Kiew-Reise so hoch gehängt hatte, dass man schon befürchtete, er könne die Erwartungen kaum erfüllen. "Ich werde mich nicht einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin was machen. Sondern wenn, dann geht es immer um ganz konkrete Dinge", sagte er vor einem Monat.

Olaf Scholz fuhr nicht allein nach Kiew, sondern mit zwei weiteren Regierungschefs aus Westeuropa - dem französischen Präsidenten Macron und dem italienischen Premier Draghi. Hinter der Troika stehen die drei stärksten Wirtschaftsmächte und politischen Schwergewichte Europas. Vor Ort gesellte sich der rumänische Präsident Johannis als Vertreter der Osteuropäer dazu. Der Besuch war zwar kurz und es gab viele Fotos, doch er war tatsächlich weit mehr als nur ein "Rein und Raus".

Hohe Erwartungen

Die Reise der drei Westeuropäer sollte in erster Linie als Zeichen der europäischen Solidarität mit den Ukrainern verstanden werden. Doch so viel Symbolkraft in der Reise steckte, so wichtig war es, dass die Gäste auch lieferten. Vor allem Olaf Scholz - denn auf ihm ruhten die (ukrainischen) Augen vor allem. Nach über 100 Tagen Krieg stieg der deutsche Bundeskanzler endlich in den Sonderzug nach Kiew ein und ging auf die möglicherweise wichtigste Reise seiner politischen Karriere.

Rosalia Romaniec | DW Mitarbeiterin | Leiterin Current Politics
DW-Redakteurin Rosalia RomaniecBild: Ronka Oberhammer/DW

Vor allem zwei Dinge erwartete die ukrainische Führung: mehr schwere Waffen aus dem Westen und ein Ja zum EU-Kandidatenstatus des Landes. Was Waffen betrifft, sind die Ergebnisse nur bedingt befriedigend. Scholz versprach zwar weitere Lieferungen an schwerem Gerät, aber er sagte wenig zur zeitlichen Perspektive. Es wird also noch dauern, auch wenn Scholz so sehr betonte, dass die Ausbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland längst begonnen hatte.

Olaf Scholz I  Emmanuel Macron I Mario Draghi I Klaus Iohannis und Wolodymyr Selenskyj
Gemeinsame Erklärung als Zeichen des ErfolgsBild: Valentyn Ogirenko/REUTERS

Beim zweiten Punkt enttäuschte der Bundeskanzler aber nicht, sondern verstand das Momentum. Als mächtigstes EU-Land und auch aus historischer Verantwortung sprach er Klartext: "Die Ukraine gehört zur europäischen Familie". Mit diesem Satz nahm Scholz in Kiew die Führungsrolle an, der ein Bundeskanzler gerecht werden muss. Alles andere hätte er sich gar nicht leisten können.

Dass Selenskyj die Entscheidung gleich "ein historisches Ergebnis“ nannte, war eine kluge Demonstration der Einigkeit mit Europa – trotz aller zu erwarteten Differenzen auf dem langen Weg vom Status eines Kandidaten zu einer Mitgliedschaft. Vor der Öffentlichkeit beteuerte der ukrainische Präsident: "Ich bin zufrieden".

Ein Morgen als Teil von Europa

Durch das Zögern und Zaudern der Bundesregierung in den letzten Monaten schien das Vertrauen der Ukrainer (und der Osteuropäer) in die deutsche Verlässlichkeit ramponiert. Auf dieser Reise gelang es Scholz, sein Image als Zauderer zumindest teilweise loszuwerden.

Und für Selenskyj ging es an diesem Tag um mehr als die formelle Perspektive einer ukrainischen EU-Mitgliedschaft. Sein Land steckt mitten im Krieg. Seine Landsleute zeigen einen Mut und eine Kampfmoral, wie sie Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gesehen hatte. Sie müssen täglich aufs Neue durchhalten. Die Perspektive eines Morgen als Teil von Europa hilf ihnen. Wenn Scholz sagte, dass sie zu Europa gehören, verstehen sie, dass ihr Kampf um die Freiheit nicht sinnlos ist. Diese Botschaft brauchte Selenskyj auch innenpolitisch, denn dem Land stehen harte Monate bevor.

Und noch etwas war für Kiew sehr hilfreich. "Die Ukraine muss den Krieg gewinnen“, sagte der französischer Präsident und schickte damit eine klare Botschaft nicht nur in die Ukraine, sondern auch nach Moskau. Auch diese Worte brachten im Osten Erleichterung und Hoffnung.

Scholz hat verstanden

Die Reise erfüllte gewiss nicht alles, was Kiew sich erhoffte. Vor allem beim Thema schwere Waffen muss sich die Ukraine in Geduld üben. Für Selenskyj schien aber an diesem Tag das Grundsätzliche fast wichtiger. Vor der Reise sagte er: "Wir brauchen von Kanzler Scholz die Sicherheit, dass Deutschland die Ukraine unterstützt“. Es dürfe keinen Spagat geben zwischen der Ukraine und den Beziehungen zu Russland.

Scholz hat die Botschaft verstanden und mit seiner Unterstützung der Ukraine auf dem Weg in die EU dafür gesorgt, dass seine Reise nach Kiew als Erfolg gewertet werden kann. Das ist nicht zu unterschätzen. Scholz und Macron galten lange beim Thema Ukraine als die Oberskeptiker von Europa. Das deutsch-französische Duo steht für eine gescheiterte Ostpolitik und für die Nähe zu Moskau. Das von Berlin und Paris ausgehandelte Minsker Abkommen ist tot und für Selenskyj keine Option. Dass sich die drei westeuropäischen Staaten in Kiew so klar zur Unterstützung der Ukraine als Teil von Europa positionierten, ist eine neue Qualität.

Für Olaf Scholz war die Reise auch eine Chance, die Kritik an seinem bisherigen Zauder-Kurs verstummen zu lassen. Damit es länger als einen Moment andauert, muss der Bundeskanzler jetzt nur den Kurs halten.

Rosalia Romaniec | DW Mitarbeiterin | Leiterin Current Politics
Rosalia Romaniec Leiterin Current Politics / Hauptstadtstudio News and Current Affairs@RosaliaRomaniec