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Zuschauen mit Würgereiz

6. August 2021

Das Springreiten beim Modernen Fünfkampf liefert bei den Olympischen Spielen in Tokio irritierende Szenen. Viele Pferde verweigern und werfen ihre Reiterinnen ab. Keine Werbung für den Sport, meint Andreas Sten-Ziemons.

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Tokio | Olympia Reitsport
Völlig verzweifelt und gegen seinen Willen trieb Annika Schleu das Pferd Saint Boy durch den ParcoursBild: Stanislav Krasilnikov/picture alliance/dpa

Solche Bilder braucht nun wirklich niemand: bockende Pferde, die - obwohl sie sichtlich keine Lust haben, weiter über die Hindernisse zu springen, oder überhaupt in den Parcours zu gehen - mit der Reitgerte angetrieben werden. Heulende Reiterinnen, die völlig die Nerven verlieren, weil sie fürchten, dass ihre gute Olympia-Platzierung durch ein widerwilliges Pferd gefährdet wird. Zahlreiche Stürze, die nur mit Glück ohne schwere Verletzung abgelaufen sind. Schwitzende Tiere mit weit aufgerissenen Augen, die auch nach mehreren Abwürfen und Verweigerungen immer wieder anreiten müssen, bis die Ziellinie endlich erreicht und die Qual vorbei ist.

Das Springreiten beim Modernen Fünfkampf am 14. Wettkampftag von Tokio war alles andere als Werbung für den Reitsport. Und das, was in der Arena geboten wurde, hatte mit normalem Springreiten auch nichts zu tun, sondern muss wohl eher mit Tierquälerei beschrieben werden. Keine Springreiterin und kein Springreiter würde sein Tier mit aller Gewalt über die Hindernisse treiben, wenn es erkennbar nicht will, oder bereits mehrere Hindernisse verweigert hat. Auch bei Großereignissen ist es gang und gäbe, dass der Reiter lieber die Runde beendet und aus dem Wettbewerb ausscheidet, als seinem Pferd weiter zuzusetzen. Das Wohl der Tiere geht da zum Glück über den sportlichen Erfolg.

Diskutables Regelwerk

Kommentarbild von Andreas Sten-Ziemons
Andreas Sten-ZiemonsBild: Slawa Smagin

Das Problem beim Modernen Fünfkampf liegt in den Regeln und Strukturen. Die Athleten sind oft nicht die besten Reiter, weil sie aus Sportarten wie dem Schwimmen kommen und das Reiten erst spät lernen. Zudem wird nicht oft im Sattel trainiert. Auch treten die Fünfkämpfer nicht mit eigenen Sportpferden an, sondern bekommen ein Tier gestellt und zugelost.

Bei den Olympischen Spielen sind es sicherlich keine schlechten Pferde, bei kleineren Wettbewerben sieht das oft ganz anders aus, weil kein Pferdebesitzer Lust hat, seine guten Pferde an mittelmäßige Reiter auszuleihen. Dafür ist die Verletzungsgefahr auch für die Tiere zu groß. Nicht umsonst wird seit längerer Zeit diskutiert, ob man das Reiten nicht durch zum Beispiel Mountainbikefahren oder eine andere Disziplin ersetzt. Nach der Frauenkonkurrenz in Tokio sollte man darüber ernsthafter nachdenken als bisher.

In Tokio waren 18 Pferde am Start, die mit wechselnden Reiterinnen mehrfach in den Parcours gehen sollten. Einige Minuten lang konnte man sich auf dem Anreiteplatz aneinander gewöhnen, dann ging es los. Spezialisten wie Weltmeisterin Simone Blum oder Olympiasieger Ludger Beerbaum sitzen dagegen täglich auf ihrem Pferd und arbeiten meist jahrelang mit ihren Tieren, bevor eine olympiareife Leistung möglich ist. Auch wenn es für manchen Laien schwer nachvollziehbar ist: Das Vertrauen und die - großes Wort - Harmonie zwischen Pferd und Reiter ist eine der Grundvoraussetzungen für erfolgreiches Springreiten.

Bundestrainerin beklagt Unfairness

Alles andere als harmonisch lief die Schlussvorstellung des unseligen Wettbewerbs: Saint Boy, das Pferd, mit dem die Führende Annika Schleu aus Deutschland in den Parcours musste, hatte bereits einige Male verweigert und wollte deutlich erkennbar nicht noch einmal springen. Saint Boy bockte, er schwitzte und hatte offenbar Angst. Das laute Weinen und Heulen der bereits völlig aufgelösten Reiterin trug sicherlich seinen Teil dazu bei, die Stimmung nicht weiter zu beruhigen.

Da keine Zuschauer im Stadion waren, konnte man auch die lauten "Weiter! Weiter!"- und "Hau drauf!"-Rufe der ebenso verzweifelten Bundestrainerin Kim Raisner hören, die es zudem offenbar für angebracht hielt, Saint Boy über den Zaun hinweg selbst ein paar Mal in die Flanke zu boxen. Im Interview mit der ARD fand Raisner das Reglement anschließend "unfair", weil man das Pferd nicht hatte tauschen können. Das geht erst nach vier Verweigerungen. Saint Boy hatte aber erst dreimal verweigert, es war also noch nicht dramatisch genug - auch hier wäre zum Wohl der Pferde eine Regeländerung angebracht. Auch der zuständige Tierarzt gab Grünes Licht. "Also mussten wir dieses Pferd nehmen", so Raisner. Mussten? Wirklich?

Es kam jedenfalls wie es kommen musste: Der Ritt misslang, bitterlich weinend verließ Annika Schleu den Parcours. Saint Boy hätte sicher am liebsten mitgeweint - wenn auch aus anderen Gründen - aber ihn fragt ja niemand.