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PolitikEuropa

Finnland sagt wieder Njet zu Russland

14. Mai 2022

Die sich anbahnende NATO-Mitgliedschaft Finnlands würde nach mehr als 70 Jahren die von Moskau erzwungene Neutralität beenden. Für Wladimir Putin wäre dies eine Demütigung, meint Konstantin Eggert.

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Soldat im Tarnanzug
Ende der Neutralität: Finnland möchte der NATO beitretenBild: DW

Als ich ein Teenager war, erzählte mir meine Patentante Olga zum ersten Mal vom "Winterkrieg", in dem sich die Sowjetunion und Finnland im Winter 1939/1940 gegenüberstanden. Sie arbeitete als Krankenschwester in einer Moskauer Klinik, als Josef Stalin unter einem fadenscheinigen Vorwand seine schlecht vorbereitete Eroberung Finnlands startete.

"Es war furchtbar", sagte sie. "All diese jungen Soldaten mit grauenhaften Erfrierungen und von Scharfschützen verursachten Wunden, die nicht behandelbar waren. Die Finnen vernichteten unsere Armee, aber wir durften nicht darüber reden. Sie mussten ein paar Gebiete an uns abtreten, aber wir haben sie nie erobert." Für mich war das ein Schock. In unseren Schulbüchern wurde der Krieg nur mit einem Absatz erwähnt.

Ja zum Käse, nein zur NATO

Während meiner Kindheit in der damaligen Sowjetunion der Siebziger- und Achtzigerjahre galt Finnland als das freundlichste der "kapitalistischen" Länder. Finnische Produkte wie der Schmelzkäse Viola oder Winterjacken waren westliche Produkte, die gelegentlich auch in die Reichweite von Sowjetbürgern gelangten. Nachdem ich Olgas Geschichte gehört hatte, konnte ich die Finnen nicht länger als harmlose Käsehersteller sehen.

DW-Redakteur Konstantin Eggert
DW-Redakteur Konstantin Eggert

Jahre später hörte ich ein berühmtes finnisches Lied aus dem Kriegsjahr 1939 mit dem Refrain "Njet, Molotoff" (Nein, Molotow), in dem man sich über Stalins Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Wjatscheslaw Molotow, lustig machte. Den Finnen war es tatsächlich gelungen, ihre Unabhängigkeit zu bewahren, jedoch nur mit dem Zugeständnis der "Finnlandisierung", der Einhaltung bestimmter, von Moskau vorgegebener Einschränkungen und Bedingungen.

Die Wahrung der Neutralität war dabei das wichtigste Gebot - also, in einfachen Worten, das Verbot, der 1949 gegründeten NATO beizutreten. Selbst als 1991 die Sowjetunion zusammenbrach, stand die Öffentlichkeit in Finnland einer NATO-Mitgliedschaft zurückhaltend gegenüber.

Finnland war wirtschaftlich immer eng mit Russland verknüpft. Der Großteil des finnischen Öl- und Gasbedarfs wird aus dem östlichen Nachbarland gedeckt. Rosatom, ein staatliches russisches Bauunternehmen für Kernkraftwerke, plante sogar die Errichtung eines Kraftwerks in Finnland – für westliche Länder ein ausgesprochen seltenes Projekt.

Der fortlaufende politische Kontakt mit dem Kreml war ein fester Bestandteil finnischer Politik. Noch im vergangenen Januar zählte Finnlands Präsident Sauli Niinisto zu den wenigen westlichen Politikern, die regelmäßig mit Präsident Wladimir Putin sprachen oder ihn trafen.

Demütigung für Putin

Doch heute ist in Helsinki ein Remix des alten Kriegshits von 1939 zu hören. Die Finnen sagen wieder Njet - diesmal zu Putin. Und sie sind bereit, dem nordatlantischen Bündnis beizutreten. Die Finnlandisierung, eines der langlebigsten Merkmale der europäischen Sicherheitslandschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, hat sich angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine innerhalb weniger Wochen überholt.

Für Putin ist das ein herber politischer Rückschlag. Seit seinem ersten offiziellen Besuch in Finnland im Jahr 2001 hat er viel Aufwand getrieben, um die Politik und Wirtschaft des Landes zu kultivieren. Nun muss er sehen, wie diese Politik innerhalb weniger Wochen in sich zusammenbricht. In einem weiteren symbolischen Akt hat Finnland das Kernkraftprojekt mit Rosatom aufgekündigt.

Russland drohte Berichten zufolge damit, die Energielieferungen an Finnland in Kürze einzustellen. In der Nacht zum Samstag stoppte Russland seine Stromlieferungen nach Finnland.
Doch die Finnen sind auf vorübergehende Härten eingestellt und sehen sich nach neuen Lieferanten um. Ihre langjährigen Erfahrungen mit Russland haben sie gelehrt, dass vom Kreml nur ernstgenommen wird, wer bereit ist, Opfer zu bringen und standhaft zu bleiben.

Putins Schuss ins Knie

Putins Versuch der militärischen Erpressung wird es nicht besser ergehen. Der Krieg gegen die Ukraine hat enthüllt, in welch erbärmlichen Zustand sich die russische Armee befindet. Die finnischen Streitkräfte dagegen nehmen regelmäßig an Übungen mit der NATO teil, sind im Besitz moderner Waffen und sind mit den Armeen des Bündnisses vollständig interoperabel.

Sollte der Kreml seine militärische Präsenz entlang der 1000 Kilometer langen Grenze mit Finnland verstärken, können die Finnen darauf zählen, dass ihre neuen Bündnispartner, einschließlich der USA, ihre Verteidigungskraft stärken, indem sie Material und Truppen in die Region verlegen.

Russlands strategische Position in der Region wird sich deutlich verschlechtern. Schweden wird voraussichtlich in Finnlands Fußstapfen treten und die Ostsee wird damit praktisch zum Hinterhof der NATO. Kaliningrad, die russische Enklave zwischen Polen und Litauen, wäre dann noch einfacher zu isolieren, sollte das Bündnis dies wünschen.

Der Ironie der Geschichte kann Putin nicht entgehen: Den Widerstand gegen eine Erweiterung der NATO machte er zu seinem Markenzeichen – und wird jetzt zusehen müssen, wie NATO-Truppen 130 Kilometer von St. Petersburg entfernt stationiert werden. Molotow hätte das ohne Zweifel missbilligt.

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.