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Politik

Die Heuchelei in der EU bleibt

7. März 2021

Ungarns Regierungspartei ist mit dem EVP-Austritt dem Rauswurf zuvorgekommen. Damit ist das Problem aber nicht gelöst, die Europäische Volkspartei hat noch ein problematisches Mitglied mehr, meint Alexander Andreev.

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Ungarns Premier Viktor Orban (li.) und sein bulgarischer Amtskollege Boiko Borissow vor den Fahnen mittelost- und südosteuropäischer Länder
Ungarns Premier Viktor Orban (li.) und sein bulgarischer Amtskollege Boiko Borissow: Keine Vorkämpfer für die Werte EuropasBild: BGNES

Ein Selfie mit Angela Merkel! Aus dem Umfeld des bulgarischen Ministerpräsidenten Boiko Borissow wird eine Anekdote kolportiert, wie er und sein ungarischer Kollege Viktor Orbán irgendwann im vergangen Jahrzehnt die Bundeskanzlerin am Rande eines EVP-Treffens in die Selfie-Falle gelockt haben.

Diese Geschichte - ob nun wahr oder nicht - ist eine schöne Metapher darüber wie sich die (damals) relativ neuen Christdemokraten und Konservativen aus Mittel- und Osteuropa ihre Rolle in der Europäischen Volkspartei vorgestellt haben dürften: Wir machen ein Selfie mit den Platzhirschen - und schon gehören wir dazu. Auch wenn Angela Merkel selbst ja auch aus dem ehemaligen Ostblock stammt.

Denkbar flache Wurzeln

Nach mehr als vier Jahrzehnten sowjetischer Diktatur, die mit Atheismus und proletarischer Propaganda garniert worden war, waren in Sofia, Bukarest, Budapest etc. nicht viele wirklich Konservative übrig geblieben. Also musste man sie in der vorhandenen politischen Masse aufspüren. Und die Europäische Volkspartei (EVP) hat sich wirklich Mühe gegeben. So wurde aus dem liberalen Freiheitskämpfer und George Soros-Mitarbeiter Viktor Orbán ein konservativer Christdemokrat. Und aus dem ehemaligen KP-Mitglied, Polizeiakademie-Absolventen und Bodyguard Boiko Borissow ebenfalls. Möglicherweise sind beide heutzutage tatsächlich gläubige Christen und konservativ. Ihre Wurzeln im europäischen Konservatismus sind allerdings denkbar flach.

Andreev Alexander Kommentarbild App
Alexander Andreev leitet die Bulgarische Redaktion

Nun, wie alle Parteien ist auch die EVP vor allem ein Bündnis zur Bildung von Mehrheiten. Das gilt besonders stark innerhalb der komplizierten und unfertigen EU, in der selbst für die kleinsten Schritte viel Taktieren und Verhandeln notwendig ist. Gerade deswegen haben die europäischen Konservativen die neuen Parteifreunde aus Mittel- und Osteuropa nicht nur mit offenen Armen empfangen. Sondern sie haben sich redlich bemüht, solche Parteien jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhang zu bilden und so eine europaweite Christdemokratie aufzubauen. Die neuen Parteifreunde aus Polen, Ungarn, Tschechien oder Bulgarien haben aber scheinbar nur die erste Hälfte der gemeinsamen Idee verstanden: Wir werden uns bei der Mehrheitsbeschaffung gegenseitig helfen.

Für ein tatsächlich vereintes Europa ist allerdings der zweite Teil der Idee viel wichtiger: die gemeinsamen Werte. Politische Mehrheiten stabilisieren zwar Strukturen, gemeinsame Werte aber stabilisieren die Gemeinschaft. Die neuen mittel- und osteuropäischen Konservativen, die im Schoß der kommunistischen Propaganda aufgewachsen sind, dachten wohl, auch bei den europäischen Werten handle es nur um politische Heißluft, um ideologische Klischees, um eine Nebelkulisse für das Volk.

Korruption, Selbstbedienung und Nepotismus

Und so haben sie diese Werte ganz einfach unter den Teppich gekehrt. Die Rechtstaatlichkeit, der Glaube an verlässlichen Strukturen, die Medienfreiheit, den Wert und die Würde des Einzelnen, das christliche Mitgefühl für Menschen im Not, letztendlich auch die Integrität und die Zuverlässigkeit eines politischen Mandatsträgers - der ganze zweite Teil der Idee, für welche die Eurpäische Volkspartei steht, wurde in Mittel- und Osteuropa schlicht und ergreifend ignoriert. In Ungarn und Polen wird die Rechtsstaatlichkeit zunehmend stranguliert, in Bulgarien sowieso - hier hat sie noch nie begonnen. Bulgarien ist europäisches Schlusslicht auch in Sachen Medienfreiheit, in Ungarn wird die Situation immer schlimmer. Christliche Nächstenliebe für die Flüchtenden an den EU-Außengrenzen? Fehlanzeige in ganz  Mittel- und Osteuropa. Verantwortungsvolles haushalten mit den Milliarden aus den EU-Töpfen? Eher das Gegenteil: Korruption, Selbstbedienung und Nepotismus!

So sieht das traurige Bild am Ende der Woche aus, in der Viktor Orbáns Partei Fidesz die EVP verlassen hat - kurz bevor sie hinausgeworfen worden wäre. Verantwortlich für dieses triste Bild sind aber nicht nur die neuen Christ-Konservativen, die in einigen mittel- und osteuropäischen Ländern an der Macht sind und sich um die gemeinsamen Werte herzlich wenig kümmern. Verantwortlich sind auch die EVP selbst und die gesamte EU, die viel zu lange beide Augen zugedrückt haben. Und weggeschaut haben vor der Realität in Ungarn, Polen. Oder Bulgarien, wo Massenproteste im vergangenen Jahr ein grelles Licht auf die Heuchelei der politischen Klasse geworfen haben.

Der Wert gemeinsamer Werte

Wegen des Austritts von Fidesz wird die EVP natürlich nicht zerfallen. Im EU-Parlament muss sie für notwendige Mehrheiten ohnehin zumeist Koalitionen mit Sozialdemokraten und Liberalen bilden. Zerfallen wird auch die EU nicht, weil sie allen Mitgliedsstaaten viel zu viele Vorteile verschafft. Doch die Europäische Union wird nie den idealen Zustand einer konsolidierten Gemeinschaft von 450 Millionen Bürgerinnen und Bürger erreichen, wenn die gemeinsamen Werte mit der bisherigen Doppelzüngigkeit gelebt werden.

Denn die Parteien bilden nur Mehrheiten, eine Gesellschaft aber wird durch Werte gebildet.