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Europas (zu) späte Zinswende

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Henrik Böhme
9. Juni 2022

Lange haben sich Europas Währungshüter Zeit gelassen, die hohe Inflation als tatsächliche Gefahr anzuerkennen. Nun endlich wollen sie handeln. Das könnte zu spät sein, meint Henrik Böhme.

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EZB neue 20 Euro Scheine Produktion
Bild: EZB

Am Ende war der Druck im Kessel zu groß. Die Inflation, die sich immer mehr in die Eurozone hineingefressen hatte, sie war dann doch kein "vorübergehendes Phänomen", wie Europas Währungshüter in den Türmen der EZB in Frankfurts Osten seit Anfang des Jahres mantrahaft vorgetragen hatten. Nein, die immer stärker steigenden Preise für Energie und Lebensmittel, sie belasten zunehmend Industrie und Verbraucher, sie sind zu einer Gefahr geworden. Für die Wirtschaft, für Konjunktur, aber auch für die Gesellschaft insgesamt.  

Allerorts versuchen Europas Regierungen gegenzusteuern, Berlin zum Beispiel mit einem Energiegeld für alle Haushalte, einem Tankrabatt und einem Neun-Euro-Ticket für den Nahverkehr. Aber die einzigen, die wirklich etwas tun können gegen immer weiter steigende Preise, das sind die Notenbanker. Nur sie können an der Zinsschraube drehen. Und nur wenn die Zinsen steigen, besteht die Hoffnung, dass die Preise nicht weiter steigen. Das ist die gängige Lehre, außer in Ankara, aber das ist eine andere Geschichte. Dort glaubt der allmächtige Präsident, dass hohe Zinsen an steigenden Preisen schuld sind.  

Henrik Böhme, DW-Wirtschaftsredaktion
Henrik Böhme, DW-Wirtschaftsredaktion

Nun also eine seltsam anmutende Entscheidung des Rates der Europäischen Zentralbank. Nach immerhin elf Jahren wird es wieder eine Zinserhöhung geben. Und obwohl die Notenbanker - voran die Chefin Christine Lagarde - in den letzten Wochen die Märkte immer wieder darauf vorbereitet hatten, dass sie nun endlich bereit sind, an der Zinsschraube zu drehen, vertun sie die Chance, es an diesem Donnerstag zu tun, sondern kündigen den Zinsschritt für die nächste Sitzung an, die für den 21. Juli terminiert ist. Vertane Zeit!  

Warum Zeit verlieren? 

Weil sich so mit jeder Woche die Erwartungen der Verbraucher an weiter steigende Preise festigen. "Wer mit der Inflation flirtet, wird von ihr geheiratet", so hat es ein früherer Bundesbank-Präsident in den 1970er Jahren mal gesagt. Sprich: Steigende Preise sind ein Inflationstreiber. Denn irgendwann werden die Gewerkschaften deutlich höhere Löhne fordern müssen, die wiederum steigende Preise nach sich ziehen. Eine solche sogenannte Lohn-Preis-Spirale ist nur noch sehr schwer und unter erheblichen Schmerzen einzufangen. Daher ist der angekündigte Schritt der EZB richtig, aber womöglich kommt er eben doch zu spät und ist zu klein.  

Natürlich reagierte der Aktienmarkt erstmal mit einem Kursrutsch, dafür genügte schon die bloße Ankündigung. Aber klar: Wenn man dem Junkie seine Drogen nimmt, reagiert er auch ziemlich heftig. Die Drogen sind in dem Fall die Käufe von Anleihen aller Art, die die EZB seit Jahren exzessiv betrieben hat, um die Märkte zu stützen und durch die Hintertür immer neues Geld eben dort hineinzupumpen. Nach Berechnung der Wirtschaftsforscher vom Mannheimer ZEW werden es am Ende sage und schreibe 4,4 Billionen Euro gewesen sein, die Europas Notenbank dafür ausgegeben hat.    

Keine neuen Hilfsprogramme       

Das Dilemma der Währungshüter ist ja auch stets, dass sie die Wahl zwischen Pest und Cholera haben. Mit höheren Zinsen bremsen sie den Anstieg der Preise - gleichzeitig aber besteht auch die Gefahr, dass sie das zarte Pflänzchen des Aufschwungs nach der Corona-Pandemie durch zu kräftige Zinsschritte kaputtmachen. Und: Höhere Zinsen machen es nun natürlich auch Ländern schwer, die eine hohe Schuldenlast zu tragen haben (nehmen wir nur Griechenland und Italien). Die konnten mit der Null-Zins-Politik bestens leben, weil es so günstig war, neue Schulden aufzunehmen. Und nicht wenige Unternehmen sind ebenfalls hoch verschuldet und könnten von der nun bald einsetzenden Zinswelle hinweg gespült werden. Denn das immerhin hat Christine Lagarde heute angekündigt: Die Zinserhöhung im Juli werde nur der Auftakt sein, eine weitere - womöglich kräftigere - könnte im September folgen.      

Heißt also auch: Die Schuldenregeln, die sich die Europäische Union einst gegeben hatte (nur um sie ständig zu verletzen oder außer Kraft zu setzen wie derzeit) sollten alsbald wieder in Kraft gesetzt werden. Es braucht auch derzeit keine riesigen Konjunkturprogramme, denn erstmal sollten die vorhandenen Corona-Hilfspakete vernünftig investiert werden. Denn auch solch massiven Hilfspakete sind am Ende - richtig: ein Treiber für Inflation. 

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Henrik Böhme Wirtschaftsredakteur mit Blick auf Welthandel, Auto- und Finanzbranche@Henrik58