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Politik

Nicht mehr das Europa unserer Großeltern

DW MA-Bild Cristina Burack
Cristina Burack
21. Mai 2019

Europa hat in zwei Generationen schon viel erreicht, ist aber nicht da, wo es sein müsste. Die EU hat kein einheitliches Wahlsystem und so können die Bürger noch nicht als echte Europäer wählen, meint Cristina Burack.

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Senioren
Bild: picture-alliance/imageBroker

Je älter mein Großvater wird, desto mehr lebt er in seinen Erinnerungen. Auf dem Sofa sitzend, beschwört er ein Europa, das es nicht mehr gibt, das ihn aber bis heute prägt. Seit seiner Geburt vor 92 Jahren in einem kastilischen Dorf hat er viel erlebt: einen blutigen Bürgerkrieg, 36 Jahre Diktatur, einen Übergang zur Demokratie, der alles andere als selbstverständlich war, und den Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft, aus der inzwischen die EU wurde.

Wenn er über andere Europäer spricht, spüre ich, wie weit Europa schon gediehen ist: Für ihn sind die Italiener "böse Menschen", die Mussolini nach Spanien geschickt hat, um für Franco zu kämpfen. Und die Deutschen sind eine "Nation von Kriegern" mit "intelligenten Ingenieuren", die der spanischen Diktatur zu militärischer Macht verholfen haben.

Diese unverrückbaren Vorurteile sind für mich - eine Amerikanerin mit spanischen Wurzeln, die in Deutschland mit einem französischen Partner lebt - nur schwer erträglich. Doch das war das Europa, das er erlebt hat - und ich bin froh, dass Europa heute nicht mehr dasjenige ist, das ihn so hat werden lassen.

Ungleiches Wahlsystem

Aber angesichts der bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament frage ich mich: Was muss Europa tun, damit es der Ort wird, den ich mir für meine Enkelkinder wünsche? Denn die werden in vielen Teilen des Kontinents ihre Wurzeln haben.

Ich wünsche mir, dass sie auf europäischer Ebene politisch repräsentiert werden von Kräften, die sie als Europäer selbst wählen konnten. Denn Europa kann seine Herausforderungen nur meistern mit Bürgern, die sich politisch über nationale Grenzen hinweg engagieren. 

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DW-Redakteurin Cristina BurackBild: DW/P. Böll

Bisher wählen die Bürger der EU-Staaten aber gar nicht als Europäer, sondern nur als nationale Staatsangehörige. Und tatsächlich ist nur die Hälfte der Befragten in allen 28 Mitgliedstaaten der Meinung, dass sie auf die EU überhaupt demokratisch Einfluss nehmen können,wie eine aktuelle Umfrage ergab.

Das Europäische Parlament mag zwar die einzige direkt gewählte Institution der EU sein, aber seine Abgeordneten werden in nationalen Systemen gewählt. Und nicht jede Stimme hat das gleiche Gewicht - kleinere Länder werden begünstigt. Jede Nation hat ihre eigenen Regeln, wie eine Partei zur Wahl antreten darf und ob die Wähler dort allein eine feste Kandidatenliste wählen können oder mehr Flexibilität haben.

In acht EU-Ländern braucht jede Partei einen Mindestanteil von Stimmen, um Sitze im Parlament zu gewinnen. In den anderen Staaten gibt es kein solches Quorum. Und in der Tschechischen Republik kann man nicht wählen, wenn man im Ausland wohnt. Wählen ist dort ohnehin nicht obligatorisch. In Belgien hingegen herrscht Wahlpflicht. Dies sind beispielhaft nur einige der bestehenden nationalen Ungleichheiten bei den Europawahlen.

Reformen sind überfällig

Die EU muss endlich paneuropäische Listen in allen Mitgliedsstaaten einführen, damit Parteien und Kandidaten die Herzen der Wähler als Europäer ansprechen können und nicht nur als Dänen oder Schweden. Die Verteilung der Mandate auf die einzelnen Länder und Regionen muss korrigiert werden, damit jede Stimme das gleiche Gewicht erhält. Und nicht zuletzt sollte das Wahlverfahren in jedem Land identisch sein, damit es auch gleiche Wahlmöglichkeiten gibt.

Der Präsident der Europäischen Kommission als wichtigster Kopf der EU muss direkt von den Bürgern gewählt werden. Bisher schlagen die Staatschefs dem Parlament einen Kandidaten vor, der zwar das Ergebnis der Wahl widerspiegeln soll, aber nicht muss. Es kann also ein ganz anderer Kandidat sein als die, welche den Wählern als potenzielle Präsidenten vorgestellt worden waren.

Die nationalen Regierungen haben es bisher versäumt, diese Mängel zu beseitigen und eine wirklich demokratisch legitimierte EU-Vertretung zu schaffen. Genau das liegt jedoch auch in ihrem Interesse, wenn sie das Überleben der Demokratie in Europa sichern wollen.

Je länger sie solche Reformen aufschieben, desto mehr wird der Glaube an die Demokratie in der EU leiden - und damit der Glaube an die Demokratie im Allgemeinen. In einer Zeit des wachsenden Populismus kann sich Europa das nicht leisten. Reformen werden den Populismus nicht ersticken, aber sie können die Identifikation mit der EU stärken.

Halte Kurs, EU!

Dank offener Grenzen und Freizügigkeit ist Europa der Ära pauschaler nationaler Vorurteile weitgehend entwachsen. Aber eine Wahlrechtsreform könnte etwa 500 Millionen Menschen dazu bringen, sich stärker als Europäer zu sehen und politisch entsprechend zu handeln.

Wenn ich einmal alt bin, auf der Couch sitze und mich für meine Enkelkinder daran erinnere, wie wir gefordert waren, das EU-Projekt am Leben zu erhalten, weil es überall von Nationalisten bedroht wurde, möchte ich, dass sie denken: "Wie gut, dass wir nicht mehr im Europa unserer Großmutter leben."