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Politik

"Europäer können stolz auf das Erreichte sein"

17. Mai 2019

Vor den Europawahlen präsentiert Gallup International eine Umfrage zur politischen Stimmung in Europa. Die ist durchwachsen. Aber es gibt auch Grund zum Optimismus, so Gallup-Direktor Kancho Stoychev.

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Belgien: Statue "Europa" vor EU-Parlament, Brüssel
Bild: picture-alliance/D. Kalker

DW: Gallup International hat soeben eine Studie zur Haltung der Europäer zur Europäischen Union (EU) veröffentlicht. Demnach fühlen sich auf dem Festland 71 Prozent der Befragten als Europäer, während es in Großbritannien derzeit gerade 41 Prozent sind. Woher stammt die überwiegende Zustimmung auf dem Festland?

Womöglich ist das Vereinigte Europa das beste Projekt, das die Menschheit je unternahm. Es bringt Frieden und Wohlstand. Doch dieses Projekt durchlebt derzeit eine tiefe Krise, begleitet von einer beispiellosen Unsicherheit der EU-Bevölkerung. Ein entsprechender Prozess findet überall in Europa statt. Die Bevölkerung verliert das Vertrauen in die politischen Eliten. Europa ist nicht nur der Geburtsort der Demokratie. Es ist auch das demokratischste System der Welt. Doch die Europäer vertrauen ihren Regierungen nicht - im Durchschnitt ist nur ein Viertel aller EU-Bürger mit ihnen zufrieden. Es ist paradox: In allen geopolitischen Regionen der Welt ist die Zustimmungsrate höher, auch in solchen, in denen die Demokratie weniger stabil ist oder gar nicht existiert. Schauen wir aber auf die europäischen Länder, die nicht in der EU sind: Dort beträgt die Zustimmung im Durchschnitt 37 Prozent. In Russland sind es etwa über 31 Prozent.

Kancho Stoychev Präsident Gallup International Association
Kancho Stoychev, Direktor von Gallup InternationalBild: Gallup International Association/Tony Tonchev

Die Europäer scheinen recht anspruchsvoll zu sein. 

Die Zahlen lassen sich auch so deuten: Die Mehrheit der Bevölkerung auf beiden Seiten des Kanals mag weder die EU noch ihre demokratisch gewählten Regierungen. Darüber hinaus lehnt eine klare Mehrheit Brüssel - das Symbol der europäischen Einheit - ab. Die EU wurde als Projekt der Eliten geboren. Das ist nicht anstößig. Im Gegenteil, es ist der einzige Weg, eine so tief greifende Veränderung wie die der letzten Jahre ins Werk zusetzen. Das Problem besteht darin, dass das Projekt eines der Elite geblieben ist, zumindest aber von der Mehrheit der Europäer als solches wahrgenommen wird. Die meisten Befragten können sich mit den Grundideen anfreunden, sind aber skeptisch hinsichtlich ihrer Umsetzung und Funktionsweisen.

Ihre Umfrage hat ergeben, dass eine beachtliche Zahl der Befragten (auf dem Festland 39, in Großbritannien 27 Prozent) daran zweifelt, dass es tatsächlich zum Brexit kommt. Prägt diese Erwartung die Verhandlungen um den Austritt? Hat sie Einfluss auf die Politiker?

Viele Menschen sähen es sehr gerne, wenn der Brexit ausbliebe. Das immerhin ist das positive Resultat eines negativen Ereignisses, nämlich dem Ergebnis der Abstimmung vom Sommer 2017. Inzwischen verstehen mehr Europäer die Vorteile, des Zusammenbleiben, und das auf viel qualifiziertere Weise als zuvor, zudem ungeachtet der existierenden Probleme.

Was die Umsetzung des Brexits angeht, erinnere ich mich allerdings an keinen anderen historischen Fall, in dem die Ausführung des Volkswillens so lange dauerte. Die juristischen Gründe für die langen Fristen sind nachvollziehbar. Ich fürchte dennoch, dass sie unangemessen sind. Denn gerade in der heutigen Zeit erscheinen zwei Jahre angesichts des hohen Tempos des Wandels wie eine kleine Ewigkeit.

Gleichzeitig verliefen die Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien nicht unbedingt in Form eines freundschaftlichen Dialogs, sondern als Abfolge von Ultimaten. Hier prallten zwei Standpunkte aufeinander. Die eine Seite erklärte: Was auch immer Ihr sagt, wir werden definitiv gehen, denn so will es die Bevölkerung. Die andere erwiderte: Was immer Ihr wollt, wir werden euch nur das geben, was uns passt. Denn wir haben unsere Regeln. Beides ist Ausdruck einer schlechten Gesprächsführung. Denn Verhandeln setzt ein offenes Ende voraus. Stattdessen lagen zwei vorgefasste Konzepte auf dem Tisch.

Halten Sie die Brexit-Entscheidung für reversibel?

Ja, wenn sie auch nicht allein von einer Seite getroffen werden kann. Die Impulse müssten von beiden Seiten kommen. Das hieße, die Briten stimmen erneut und in die entgegengesetzte Richtung ab. Und die EU ändert ihre "Bibel", das aktuelle Regelwerk. Unsere Studie zeigt, dass sich auf Ebene der Bürger auf beiden Seiten starke Mehrheiten für den Zusammenhalt finden. Das Problem liegt eher auf der Seite der Eliten - sie haben allzu unterschiedliche Ansichten darüber, was genau es heißt, zusammen zu bleiben.

Symbolbild Brexit | Protest gegen Austritt in London
"Revoke!": Protest gegen den Brexit, London, April 2019Bild: Reuters/H. Nicholls

Aber was sind die Gründe für die Vorbehalte auf der Insel, was das Zugehörigkeitsgefühl zur EU angeht?

Sie geht vor allem auf die politischen Eliten zurück. Die Briten haben ein enormes psychologisches Problem, das aus der Vergangenheit resultiert. Einige haben es immer noch nicht verkraftet, dass Großbritannien seine Rolle als Imperium hat aufgeben müssen. Hinzu kommen erhebende Erinnerungen, etwa der Triumph über Nazi-Deutschland 1945. Diese Erinnerungen sind für Teilen der Elite immer noch Grundlage ihres Selbstverständnisses. Sie haben zudem eine über Jahrzehnte anhaltende Anti-Brüssel-Kampagne gestartet. Gewiss war die Kritik an Brüssel in Teilen angemessen. Sie war aber auch recht einseitig und diente darum nicht Interessen und der Zukunft des Vereinigten Königreichs. Jetzt scheint es, dass sich diese Haltung ändert.

Wenn man es positiv fasst: Auf dem Festland fühlen sich viele Bürger als Europäer. Woher stammt dieses Gefühl?

In der globalisierten Welt stellt jede EU-Nation - auch die größte, die deutsche - eine verschwindend kleine Größe dar. Geschichte wird von Individuen in die Wege geleitet, aber von den Massen exekutiert. Nur gemeinsam können wir ein historisches Gewicht haben. Gemeinsam haben wir ernste Vorteile und können weiterhin eine Vorbildfunktion übernehmen.

Würden Sie von der Existenz einer europäischen Identität sprechen?

Es gibt definitiv eine europäische Identität. Aber wir sollten sie nicht gegen die nationale Identität ausspielen, ja nicht einmal versuchen, sie zu unterdrücken. Was magst du mehr - dein Land oder deine Familie? Dies ist ein Beispiel für eine wirklich dumme Frage, die nur zu einer dummen und unnatürlichen Entscheidung führen kann. Vergessen wir nicht, dass eine Identität als Franzose, Italiener oder Deutscher, ein vergleichsweise junges Phänomen ist. Bis vor vergleichsweise kurzer Zeit haben sich die Europäer entweder über ihre Stadt oder ihre Region definiert.

Welche Erwartungen haben die Europäer hinsichtlich der kommenden EU-Wahlen?

Die Menschen sind in ihren Erwartungen gespalten. Im Westen und besonders im Norden dominieren negative Erwartungen, während sie im Süden und Osten überwiegend positiv sind. Die große Frage ist allerdings: Was heißt positiv, was negativ? Dazu existieren offenbar ganz unterschiedliche Vorstellungen. Deshalb deutet sich in den Antworten eher eine Gefühlslage als ein konkretes Programm an.

Welche Hauptkritikpunkte bestehen an der derzeitigen Form der EU?

Die größte Kritik der Europäer an Brüssel bezieht sich auf ungerechtfertigte Bürokratie und mangelnde Transparenz. Auch Ineffizienz ist ein Thema. Zudem braucht es eine europäische Armee und gemeinsame Verteidigung, einschließlich der Grenzsicherung. Irgendwann braucht es auch einen europäischen Präsidenten, so schwierig der Weg dorthin auch sein mag. Zudem dürfen wir unsere europäische Politik nicht von den Vorgaben jenseits des Atlantiks abhängig machen. Und: Wir können stolz auf das Erreichte sein: Menschen auf der ganzen Welt betrachten Europa als einen der bedeutendste Faktoren der politischen Stabilisierung. Diese Rolle sollten wir weiterhin aktiv übernehmen.

Das Interview führte Kersten Knipp.

Kancho Stoychev ist Präsident des demografischen Instituts "Gallup International Association".

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika