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Kommentar: Europa in Not

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert
8. Oktober 2015

Die gute Nachricht zuerst: Die ersten Schritte zu einer neuen Flüchtlingspolitik sind getan. Die schlechte Botschaft: Sie kommen spät, vielleicht zu spät. Und wohin die Reise geht, das kann Bernd Riegert nicht erkennen.

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Symbolbild - Sanduhr
Bild: Fotolia/Paylessimages

Langsam, vermutlich zu langsam, nehmen die Maßnahmen gegen die Flüchtlingskrise in Europa Gestalt an. Die Innenminister gaben in Luxemburg den Startschuss für die Verteilung von Flüchtlingen nach einer festen Quote. Erst einmal provosorisch, eine dauerhafte Lösung lässt noch auf sich warten. Italien und Griechenland gehen erst jetzt ernsthaft daran, größere Aufnahmezentren zu bauen. Die Grenzen der EU sollen besser kontrolliert werden. Schlepper vor Libyen werden bekämpft. Abschiebungen von abgelehnten Asylbewerbern sollen durchgezogen werden. Die Außenminister verhandeln mit der Türkei über eine bessere Zusammenarbeit, um den Strom der Flüchtlinge sozusagen nahe der Quelle zu stoppen.

Viele sinnvolle Vorhaben, alle noch im Anfangsstadium. Der EU läuft aber die Zeit davon.

Es kann gut sein, dass die Wirklichkeit die immer noch zu langsame EU und ihre Maßnahmen überholt. Täglich kommen Tausende Menschen an den Außengrenzen an und setzen ihren Weg über den Balkan oder Italien nach Mitteleuropa fort, vornehmlich nach Deutschland. Bis die Maßnahmen der EU wirklich greifen und den eigentlichen Zweck erfüllen, nämlich die Zahl der Asylbewerber zu drosseln, bis dahin können noch Monate vergehen. Werden die Hauptaufnahmeländer so lange durchhalten? Oder gehen den Bayern die Nerven durch und sie machen die Grenzen nach Österreich dicht?

Deutschland - gefangen in der eigenen Politik

Das würde eine Kettenreaktion auf der Balkanroute auslösen. Das System der im Prinzip offenen Grenzen, so chaotisch es auch zu sein scheint, funktioniert nur so lange, wie die Flüchtlinge am Ende nach ihrem Hindernislauf durch Europa in Deutschland Aufnahme finden. Würde Deutschland dicht machen, Tausende Flüchtlinge würden stranden. Die Spannungen zwischen Serbien und Kroatien zum Beispiel, die im Moment nur mühsam im Zaum gehalten werden, könnten binnen Tagen explodieren.

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Europa-Korrespondent Bernd Riegert

Die Bundeskanzlerin könnte, selbst wenn sie es aus innenpolitischen Gründen bald wollte, nicht einfach sagen: Wir schaffen das nicht mehr. Sie muss durchhalten, sie ist in ihrer eigenen Politik gefangen. Denn sonst bricht in Europa ein wahrscheinlich kaum mehr zu beherrschender Konflikt los. Österreich gegen Ungarn. Ungarn gegen Serbien. Mazedonien gegen Griechenland. Und die Flüchtlinge würden noch mehr, als sie das ohnehin schon sind, zu Spielsteinen auf einem unmenschlich anmutenden Schachbrett der nationalen Interessen.

Die Diplomaten stehen unter großem Druck

Die auch bei den Innen- und Außenministern in Luxemburg vielbeschworene Bekämpfung der Fluchtursachen in den Herkunftsländern ist natürlich nötig, also auch eine friedliche Lösung für Syrien. Nur wird das seit Jahren versucht - durchschlagende Erfolge gibt es bislang leider nicht, weder in Afrika noch in Afghanistan noch im Irak. Die Zeit drängt auch hier. Die Flüchtlinge kommen jetzt, hier und heute. Die Diplomaten der EU stehen mächtig unter Druck.

Deshalb sind sie jetzt auch bereit, Zugeständnisse zu machen. Die Türkei wird sich ihre Kooperation teuer bezahlen lassen. Auch Russland wird versuchen, für eine Lösung des Syrienkonflikts das Beste für sich herauszuholen.

Jetzt zahlt die EU den Preis für ihre Nachlässigkeit

Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten zahlen jetzt den Preis dafür, dass sie sich jahrelang um eine vernünftige gemeinsame Asyl- und Flüchtlingspolitik herumgedrückt haben. Die illegale Migration aus Balkanstaaten ist zu lange toleriert worden. Möglichkeiten zur legalen Einwanderung wurden kaum geschaffen. Das nach dem Vertragsort Dublin benannte Konzept, Flüchtlinge an den Außengrenzen oder besser noch in sicheren Drittstaaten zu halten, ist von der Wirklichkeit ad absurdum geführt worden. Zu lange hat die EU hingenommen, dass Griechenland und Italien (und vor ihnen Spanien und andere) die Regeln einfach ignoriert haben.

Die "Dublin"-Regel ist schon lange tot - höchste Zeit für ein neues Asylsystem. Das muss jetzt unter dem Druck der Verhältnisse eilig aus dem Boden gestampft werden. Das Chaos, das die EU jetzt beklagt, ist ein Chaos mit Ansage. Die Zeit läuft.

Porträt eines Mannes mit blauem Sakko und roter Krawatte
Bernd Riegert Korrespondent in Brüssel mit Blick auf Menschen, Geschichten und Politik in der Europäischen Union