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Flüchtlinge abweisen, Grenze schließen?

Christoph Hasselbach8. Oktober 2015

Die bayerische Landesregierung hat mit "Notwehr" gedroht, wenn die Bundesregierung den Flüchtlingsstrom nicht begrenze. Aber darf Bayern das überhaupt? Der Europarechtler Walther Michl gibt Antworten.

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Grenzzaun in Ungarn (Foto: Getty Images/AFP/C. Segeswaria)
Bild: Getty Images/AFP/C. Segeswaria

DW: Herr Michl, der bayerische Innenminister Joachim Herrmann hat gedroht, Flüchtlinge, die über Österreich kommen, dorthin zurückzuschicken, weil Österreich europäisches Recht missachte. Wäre das rechtlich möglich?

Walther Michl: Wenn, dann könnte das nicht Bayern machen, sondern das ist eine ausschließliche Bundeskompetenz. Theoretisch ist natürlich ein anderer EU-Mitgliedsstaat zuständig, wenn die Flüchtlinge schon durch Österreich gekommen sind. Das muss aber nicht unbedingt Österreich selbst sein. Deutschland müsste erst einmal prüfen, welcher EU-Staat wirklich zuständig ist. Und zum Zweck dieser Prüfung hätten die Flüchtlinge auf jeden Fall erstmal ein Aufenthaltsrecht in Deutschland.

Im Moment gibt es zwar Kontrollen an der Grenze zu Österreich, aber Flüchtlinge werden trotzdem nicht aufgehalten. Darf Deutschland die Grenze notfalls schließen?

Rein nach deutschem Recht wäre es möglich. EU-rechtlich ist es als einseitige Maßnahme in einer absoluten Ausnahmesitutaion für einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren möglich. Dann müssten anhaltende schwere Mängel bei der Kontrolle der Außengrenzen festgestellt werden. Das kann man im Augenblick durchaus annehmen.

Im Moment sind die EU-Außengrenzen fast völlig offen bis auf Ungarn, das einen Zaun gebaut hat. Könnte man also rein rechtlich argumentieren, Deutschland dürfe sich selbst mit einem Zaun schützen, weil die Kontrolle der Außengrenzen nicht funktioniert?

Das sehe ich nicht so. Es steht zwar nichts über die Art der Grenzsicherung in den bundes- und unionsrechtlichen Vorschriften. Aber in jedem Fall sind alle individuellen Grundrechte zu beachten. Und vor allem ist der Verhältnismäßigkeits-Grundsatz zu wahren, und den würde ich dann verletzt sehen. Abgesehen davon ist es natürlich topographisch ein ziemlicher Witz, eine Grenze zwischen Deutschland und Österreich durchs Hochgebirge und dann in den Inn hineinzupflanzen. Also, das ist kein realistischer Vorschlag.

Walther Michl (Foto: picture-alliance/dpa/W. Michl)
Walther Michl: Im Prinzip ist die Aufnahme von Flüchtlingen grenzenlosBild: picture-alliance/dpa/W. Michl

Die Bundeskanzlerin hat noch einmal gesagt, es könne keinen Aufnahmestopp geben. Ist die Zuwanderung theoretisch grenzenlos?

Im Prinzip ja. Alle rechtlichen Instrumente, die Flüchtingen eine Rechtsstellung in der EU und in Deutschland geben, sehen keine Höchstgrenze vor. Das Ganze ist natürlich nicht auf eine Situation wie jetzt gemünzt, dass die Flüchtlingszahlen in die Millionenhöhe schießen. Und natürlich ist es auch nicht auf die Situation gemünzt, dass die Außengrenzen nicht funktionieren.

Gibt es eine faktische Obergrenze, und wenn ja, wer bestimmt sie? Oder müsste erst die staatliche Ordnung zusammenbrechen?

Im wesentlichen ist es dann eine Notstandssituation. Das heißt, das ist alles rechtlich nicht geregelt. Man müsste auf eine nicht normativ geregelte Grenze stoßen. Wie die dann zu bestimmen ist, dazu gibt es keinerlei Präzedenzfälle.

Merkel hat auch gesagt, die Dublin-Regeln - das heißt, dass derjenige Staat für einen Asylbewerber zuständig ist, wo er EU-Boden betritt - seien "in der Praxis nicht tragfähig". Kann eine Regierungschefin Dublin einfach für tot erklären?

Rechtlich gesehen nicht, aber praktisch eigentlich schon. Eine Vorordnung der EU ist europaweit geltendes Recht. Und die Regierungschefin eines einzelnen Mitgliedsstaates kann sich nicht hinstellen und sagen: Es interessiert mich nicht, was hier europaweit als geltendes Recht verabschiedet wurde. Rein praktisch gesehen hat die Bundeskanzlerin aber recht. Wenn die Staaten an den Außengrenzen ihren Teil der Regelung nicht einhalten, dann ist die Frage, ob nicht die Staaten, die keine Außengrenzen haben, auch von den Regeln abweichen können, weil insgesamt die Konstruktion dieser Verordnung nicht mehr funktioniert.

Menschengedränge an der Grenze (Foto: picture-alliance/dpa)
Kontrollen an der deutsch-österreichischen GrenzeBild: picture-alliance/dpa

Sollte man sich in dieser unsicheren Situation eher an die bestehende Rechtslage halten - denn Dublin gilt ja eigentlich weiter - oder an das Machbare?

Das Problem ist, sich an die Rechtslage zu halten, ist gar nicht so einfach. Wenn die Staaten an den Außengrenzen die Flüchtlinge nicht registrieren, können die Staaten im Binnenland auch nicht feststellen, welcher Staat eigentlich nach den Dublin-Regeln für die Flüchtlinge zuständig wäre. Das müssten sie aber feststellen können, um demjenigen Staat den Flüchtling wieder zuzuweisen. Das heißt, dass man sich in der Praxis an das Machbare halten muss, weil es rechtlich nicht durchsetzbar ist.

Wie, glauben Sie, wird es jetzt weitergehen?

Ich glaube, dass die Drähte zwischen den europäischen Hauptstädten extrem heißlaufen, dass Dublin reformiert wird. Das Ziel muss natürlich sein, wirksame Kontrollen an den Außengrenzen wiederherzustellen, dort die Registrierung durchzuführen, gleichzeitig die Staaten an den Außengrenzen nicht allein zu lassen mit der Bewältigung des Flüchtlingsstroms, sondern gerechte Verteilungsverfahren und vor allem einheitliche Asylstandards in der gesamten EU einzuführen. Wie realistisch das ist, muss die Praxis zeigen. Ich bin im Augenblick eher pessimistisch.

Dr. Walther Michl ist Europarechtler an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Das Gespräch führte Christoph Hasselbach