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Politik

Die NATO liegt schon lange im Koma

Barbara Wesel Kommentarbild App *PROVISORISCH*
Barbara Wesel
4. Dezember 2019

Er sei zufrieden, weil er eine strategische Debatte in der NATO angestoßen habe, meint der französische Präsident. Will das Militärbündnis überleben, muss es endlich politisch werden, meint Barbara Wesel.

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England NATO Gipfel in London | Emmanuel Macron
Der französische Präsident Emmanuel Macron bestimmte die Diskussionen beim NATO-Gipfel in LondonBild: picture-alliance/dpa/AP/M. Dunham

Die Debatte über das Ende der NATO ist so alt wie sie selbst, und seit 70 Jahren sind die Berichte über ihr nahendes Ableben stark übertrieben. Abgesehen davon aber hat Frankreichs Präsident Macron recht - die NATO ist hirntot, und zwar schon lange. Auch wenn sich die Bundeskanzlerin und andere darüber ärgern, spricht der französische Präsident eine Wahrheit aus. Denn politisch war die NATO nie schwächer als jetzt.

Eine der größten Schwächen des Bündnisses ist der irrlichternde US-Präsident. Nach Lust und Laune beleidigt er seine Partner, lobt Autokraten wie den türkischen Präsidenten oder Nordkoreas Kim Jong Un oder stellt die NATO gleich ganz infrage. Auf Emmanuel Macrons Kritik aber reagierte er in London allergisch und schwang sich plötzlich zum stärksten Verteidiger des Bündnisses auf. Die NATO kritisieren darf offenbar nur Trump selbst. Es ist ein infantiles Schauspiel.

Stille Hoffnung aufs Trumps Abwahl

Auch bei seinen einsamen Entscheidungen handelt der US-Präsident destruktiv. Er zieht US-Truppen ohne Absprache aus Syrien ab und öffnet die Tür für die türkische Militärintervention gegen die Kurden, die den Kampf gegen den "Islamischen Staat" für den Westen geführt haben. Ein fatales Beispiel für Verrat von Alliierten mit hohen menschlichen und politischen Kosten. Und das ist nur ein Beispiel für die Unfähigkeit Donald Trumps zu strategischen Entscheidungen im gemeinsamen Interesse. Bei der NATO hoffen sie stillschweigend, dass er im kommenden Jahr nicht wiedergewählt wird.

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Barbara Wesel ist Korrespondentin beim NATO-Gipfel

Zu Zeiten des kalten Krieges war das Leben für die NATO einfach: Sie bildete das Gegengewicht zum Warschauer Pakt. Die Aufgaben waren klar, die Doktrin der gegenseitigen Abschreckung ein schlichtes strategisches Modell. 30 Jahre später aber hat das Bündnis keine neuen Antworten auf eine völlig veränderte Welt gefunden. Man hangelt sich von Krise zu Krise und von einem Gipfeltreffen zum nächsten.

Zum ersten Mal etwa wurde bei dem Londoner Treffen nun China als künftige Herausforderung thematisiert. Doch das heißt nicht viel, denn von einer gemeinsamen Politik gegenüber Peking kann keine Rede sein - zu verschieden sind die Interessen der Mitgliedsländer. Aber immerhin ist der Aufstieg dieser neuen Großmacht jetzt als potenzielle Bedrohung benannt und damit die Erlaubnis gegeben, über die Konsequenzen durchaus aggressiver chinesischer Politik für die gemeinsame Sicherheit nachzudenken.

Das Militärbündnis braucht einen politischen Kopf

Es ist, als würde man einem uralten, etwas tumben Riesen beim Denken zusehen. Die Reaktionszeiten scheinen endlos. Zum Beispiel gegenüber neuen Risiken durch den Klimawandel, welche die norwegische Ministerpräsidentin ansprach. Oder angesichts der Gefahren regionaler Destabilisierung durch sich wandelnde Terrorgruppen, denen Frankreich mehr Aufmerksamkeit widmen will. Und mitunter sind es politische schwarze Löcher, teilweise von NATO-Mitgliedern selbst geschaffen, wie zum Beispiel in Libyen, die zu Brutstätten von Terrorismus und Menschenhandel werden, die Europa bedrohen.

Der NATO fehlt eine Art politischer Kopf, ein Gremium, das gleichzeitig Analysen hervorbringt und Entscheidungen vorbereiten kann. Der "Rat der Weisen", der jetzt eine Art Fahrplan für die Zukunft entwerfen soll, ist nur eine Notlösung. Und ein weiterer Schwachpunkt der Allianz ist: Mit immer mehr Mitgliedsländern, die immer unterschiedlichere Interessen haben, wird der Zwang zur Einstimmigkeit zunehmend zur Zwangsjacke.

Auch fehlen reale Sanktionsmechanismen, wenn Mitgliedsländer rücksichtslos rein nationale Interessen verfolgen, wie die Türkei mit ihrem Schlag gegen die Kurden und dem Ankauf eines russischen Raketensystems. Solche Aktionen reißen eine Lücke in die gemeinsame Sicherheit, die sich durch Formelkompromisse wie in London nicht schließen lassen. Und sie werfen ziemliche Zweifel an den sogenannten "gemeinsamen Werten" auf.

Ist die NATO noch zu retten?

Entgegen der Diagnose von Emmanuel Macron ist die NATO zwar komatös, aber noch nicht tot. Denn auch die europäischen Ansätze, die eigene Verteidigung zum gemeinsamen Projekt zu machen, verlaufen zäh. Sie können die Allianz in näherer Zukunft nicht ersetzen.

Wie reformfähig die NATO angesichts des steigenden äußeren und inneren Drucks tatsächlich ist, bleibt offen. Viel hängt dabei von den Präsidentschaftswahlen in den USA im kommenden Jahr ab. Aber eines ist klar: Der französische Präsident hat der NATO zu ihrem 70. Geburtstag durch seine undiplomatische Offenheit einen Gefallen getan.