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Der Todesschuss, der kommen musste

17. Oktober 2015

Ein bulgarischer Grenzpolizist erschießt einen afghanischen Flüchtling, das Innenministerium in Sofia spricht von einem Querschläger. Ort und Zeitpunkt der Tragödie sind aber kein Zufall, meint Alexander Andreev.

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Zaun an der Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei (Archivbild) (Foto: BGNES)
Zaun an der Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei (Archivbild)Bild: BGNES

Es war nur eine Frage der Zeit, bis an einer europäischen Außengrenze ein Todesschuss fallen würde. Dass es am Donnerstag (15.10.2015) gerade an der bulgarischen Grenze zur Türkei passierte, könnte man als einen Zufall abtun. Es hätte ja genauso in Mazedonien, in Serbien oder in Ungarn geschehen können. Denn die europäischen Behörden und die lokalen Grenzschutzkräfte sind nicht nur überfordert, sie sind ratlos. Gilt Dublin noch? Keiner weiß es.

Muss man noch die Grenze schützen oder sollte man lieber die Flüchtlinge und Migranten weiterlaufen lassen – dort, wo sie eigentlich wirklich hin wollen? Auch diese Frage kann man beliebig beantworten. Aus dieser Dunkelzone heraus kam der nächtliche Schuss in der Nähe von Sredetz in Südbulgarien, und zwar als zeitgleich in Brüssel wieder über die Flüchtlingskrise auf höchster Ebene beraten wurde.

Alexander Andreev ist Leiter der bulgarischen Redaktion (Foto: DW)
Alexander Andreev ist Leiter der bulgarischen Redaktion bei der DWBild: DW/H. Mund

Dass es gerade an der bulgarischen Grenze passierte, ist aber kein purer Zufall. Den Beweis dafür lieferten prompt die ersten Reaktionen in bulgarischen Medien und Internet-Diskussionsforen: “Gut geschossen, Jungs! Den schwarzen Pack wollen wir hier nicht!” So oder ähnlich klingt der Vox Populi aus allen Kanälen. Und der bulgarische Obernationalist und ehemaliger Minister Boschidar Dimitrov (heute Direktor des Nationalhistorischen Museums) hat es mit einem Vorschlag auf den Punkt gebracht: Man sollte die tapferen Grenzpolizisten sogar mit einer Medaille auszeichnen.

Dass der bulgarischen Staatspräsident Rossen Plevneliev die Tötung des Afghanen bedauerte und die Menschenrechtler den gesetzwidrigen Gebrauch von Feuerwaffen gegen unbewaffnete Menschen verurteilten, blieb in der bulgarischen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet. Es sind ja eh westliche Marionetten, die nur das tun, was aus Washington und Brüssel befohlen werde, so der Tenor.

Seit einem Jahr geht zwar der Flüchtlingsstrom an Bulgarien vorbei, trotzdem aber ist eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung von diffusen Ängsten und einem ganz offenen Rassismus angesteckt. In einem arabischen "Flüchtlingshandbuch" rangiert Bulgarien auf Platz 1 unter den Ländern, die die Asylbewerber meiden sollten. Fremdenhass und Islamophobie seien in Bulgarien weit verbreitet, steht da zu lesen. Und da Bulgarien traditionell Russland freundlich ist, entwickelt sich zur Zeit eine explosive Mischung aus Ablehnung gegenüber den Flüchtlingen und Zustimmung für die russische Militäroperation in Syrien. Viele Bulgaren fühlen sich von der EU im Stich gelassen. Immer lauter werden die Befürchtungen, die EU würde stillschweigend ein “Cordon Sanitaire” auf dem Balkan aufbauen, um sich gegen die unerwünschte Migration zu schützen. Und die Rechnung dafür würden wieder die ärmsten Europäer, also auch die Bulgaren, bezahlen müssen.

Armut, Rückständigkeit, enttäuschte Hoffnungen, diffuse Ängste und Nationalismus – das sind die Entzündungen, unter denen die Menschen in den meisten Balkanländern leiden. Und der Todesschuss an der bulgarischen Grenze kam nicht nur als eine logische Konsequenz, sondern auch als eine symbolhafte und repräsentative Geste des Unmuts, ja der Verzweiflung.

Europa ächzt zwar unter dem Flüchtlingsstrom, was aber vielleicht noch schlimmer ist: Europa bröckelt an den Rändern. Und genau diese Gefahr wird übersehen und unterschätzt. Die Empörung in Europa über den Todesschuss an der EU-Außengrenze ist über jeden Zweifel hinaus berechtigt. Man sollte aber die tieferen Ursachen unter die Lupe nehmen und eiligst handeln. Denn in ein paar Jahren wird das Flüchtlingsproblem im reichen Westen wohl gelöst sein, die südöstliche Peripherie von Europa aber könnte für sehr lange Zeit eine Gefahr für den Frieden und die Stabilität bleiben.