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Politik

Der Stabilokrat

Norbert Mappes-Niediek
Norbert Mappes-Niediek
21. Juni 2020

Mit rund 63 Prozent für die Präsidentenpartei scheinen die Serben ein Votum für Stabilität abgegeben zu haben. Jede Opposition, so sieht es aus, ist besiegt, ebenso das Coronavirus. Norbert Mappes-Niediek kommentiert.

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Wahlen in Serbien
Aleksandar Vučić bei der Stimmabgabe in BelgradBild: Reuters/M. Djurica

Spielt die Welt auch verrückt, ausgerechnet im Herzen des Balkan herrschen offenbar Ruhe und Zufriedenheit. Jahrzehntelang hieß es, die Staaten der geschüttelten Region kämen erst mit einem festen Kurs auf Europa, Demokratie und Rechtsstaat in ruhiges Fahrwasser. Das war wohl falsch gedacht.

Erst mit dem autoritären Aleksandar Vučić ist Serbien scheinbar zu sich selbst gekommen. Statt im Schlepptau hinter dem schlingernden Tanker Europäische Union her zu dümpeln, steuert der Präsident das Staatsschiff mit fester Hand durch die Klippen des aufgewühlten Weltmeeres. Und macht dabei noch allen vor, wie man sicher zu neuen Ufern kommt: Schon am kommenden Samstag will Vučić ins Weiße Haus nach Washington reisen, "Versöhnung" mit dem Kosovo zelebrieren oder wenigstens "ein neues Kapitel aufschlagen". Nicht Europa, nicht Angela Merkel garantiert Sicherheit und Ordnung. Das tun jetzt vielmehr Aleksandar Vučić und - man glaubt es kaum - Donald Trump.

Man glaubt es kaum, und man tut auch gut daran, es nicht zu glauben.

Machtapparat SNS

Schon das sagenhafte Wahlergebnis ist als Vertrauensbeweis für den Präsidenten falsch gedeutet. Seine "Serbische Fortschrittspartei" (SNS) ist keine Kraft in einem pluralistischen System, wo Parteien mit Ideen und Argumenten um die Gunst der Wähler konkurrieren würden. Sie ist nicht eine, sondern die Partei: ein Machtapparat, so, wie früher die KP einer war.

Norbert-Mappes-Niediek - Korrespondent mehrerer deutschsprachiger Zeitungen in Südosteuropa
Norbert Mappes-NiediekBild: L. Spuma

Wer als einzelner einen Job will, wer als Unternehmer einen Auftrag möchte, wer als Lokalpolitiker Steuermittel für seine Gemeinde braucht, muss sich mit der allgegenwärtigen Macht arrangieren. Mit ihren 730.000 Mitgliedern ist die SNS die größte Partei in ganz Europa - nicht relativ, sondern absolut, und das in einem Land mit kaum mehr Einwohnern als Hessen sie hat. Wer ihr seine Stelle oder seine Position verdankt, und das sind in Serbien inzwischen so gut wie alle, tut gut daran, die Partei auch zu wählen, denn wenn sie ihre Macht verliert, ist der Job weg. Es ist ein geschlossenes System. In Wahlkämpfen wird es weiter abgedichtet. Aktivisten rufen alle Mitglieder und Sympathisanten an, die der Partei etwas schulden, und fragen sie ganz harmlos nach ihrer Präferenz an der Urne. Wer würde da nicht freudig seine Ergebenheit ausdrücken?

Aufgebaut hat die Partei ihre Macht generalstabsmäßig - mit kleinen Subventionen, Spenden für Lokalradios, Gefälligkeiten für Bürgermeister, großzügiger Auftragsvergabe. Unmerklich stieg der Wasserspiegel der Macht, und ehe sie sich versahen, waren die vielen konkurrierenden Machthaber in der Provinz abgetaucht. Erst Jahre ist es her, dass der einstige Milošević-Zögling - formal erst noch als Vize-Premier - an die Macht gekommen ist. Heute ragt der Zweimetermann einsam aus dem Tümpel heraus. Eine Opposition gibt es nicht mehr. Die Sozialisten, mit knapp elf Prozent zweitstärkste Partei, sind nur Mitspieler, so wie es in der DDR die Blockparteien und in Jugoslawien die Sozialistische Allianz der Werktätigen waren.

Geschicktes Taktieren

Das System ist stabil - so stabil, wie es das kommunistische war. Funktionieren kann es nur, wenn es etwas zu vergeben und zu verteilen gibt. Das ist dank geschickten Taktierens nach wie vor der Fall: Zuwendungen aus der EU und Investitionen aus China haben Serbien bis zur Corona-Krise das gemeinsam mit Rumänien höchste Wachstum in der Region gebracht, und den Vorhersagen nach soll der Einbruch nach der Pandemie gelinder ausfallen als anderswo. Investoren schätzen das Land: Die allmächtige Partei macht es für sie zu einem "One stop shop". Lizenzen sind kein Problem, Widerstände nicht zu erwarten.

Gegen COVID-19 hat Serbien härter agiert als jedes andere Land in Europa: mit einer Ausgangssperre von 17 Uhr nachmittags bis fünf Uhr morgens und einer totalen rund um die Uhr für alle über 65, mit drakonischen Strafen. Aber anders als die Menschen lässt sich das Virus vom starken Staat nicht einschüchtern und ernährt sich von desolaten sozialen Verhältnissen: Nach ersten Erfolgen steigt die Zahl der Infektionen wieder an, vor allem in Studentenheimen, wo die Bewohner ähnlich eng zusammenleben wie in den Wohncontainern westfälischer Schlachtbetriebe. Bis zum Wahltag blieb das Thema unter der Decke. Der Termin war, so scheint es, perfekt gewählt.

Herren im eigenen Hause

Von gleicher Art ist die neue Stabilität in der Region, auf die Vučić jetzt zusteuert: Nun, da niemand mehr da ist, der ihm widersprechen könnte, und da selbst die orthodoxe Kirche an der kurzen Leine liegt, ist der Präsident frei, endlich auch die leidige Kosovo-Frage zu lösen - auf seine Art.

Seit zwei Jahren schon streiten Vučić und sein albanisches Alter Ego Hashim Thaçi für den Austausch von Gebieten zwischen Serbien und dem Kosovo. Von wirklicher Versöhnung, von Aufarbeitung der Vergangenheit, von Entspannung im Alltag, von Begegnungen auf gesellschaftlicher Ebene ist dabei keine Rede. Das Gegenteil wäre der Effekt: Beide Führer würden mit ihrer Lieblingslösung Herren im eigenen Hause und bräuchten auf die Rechte lästiger Minderheiten keine Rücksicht mehr zu nehmen. Dass Trump dabei den Friedensstifter spielt, passt gut ins Bild: Internationale Regeln durch bilaterale "Deals" zwischen starken Männern abzulösen ist gerade seine erklärte Politik. Wenn das Manöver sich obendrein dazu eignet, die Europäer zu ärgern: Umso besser.

62 bis 63 Prozent sind ein phantastisches Ergebnis. Aber mit der Stabilität, weiß man in Europa, ist es so eine Sache. "Everything was forever, until it was no more", hat der russisch-amerikanische Autor Alexei Yurtchak die Erfahrung einer Generation auf den Punkt gebracht.