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Politik

Jugoslawien - geliebt, gehasst, vorbei!

1. Dezember 2018

Jugoslawien wäre in diesen Tagen 100 geworden - wäre. Gestorben in den 1990er Jahren, haftet dem krachend gescheiterten Vielvölkermodell dennoch ein Hauch von Nostalgie an, meint Volker Wagener.

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Belgrad, Tito-Anhänger mit Jugoslawien-Fahne
Bild: Getty Images/AFP/A. Isakovic

1976 fuhr ich per Anhalter nach Jugoslawien - ans Meer natürlich. Dass ich mich auf "kroatischem Terrain" sonnte, wurde mir erst Jahre später bewußt. Tito regierte noch, mehr kraft seiner Aura, tatsächlich aber schon an der Schwelle zum Nachlassverwalter. Dennoch: Sozialismus unter Palmen fühlte sich herrlich an. Drei Jahre später zog es mich erneut in das Land der Arbeiterselbstverwaltung. Dessen Freiheit zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten (Blockfreiheit) faszinierte damals auch westdeutsche Linke, die  mit den USA wegen Vietnam und auch mit der Gulag-Politik der Sowjets nichts am Hut hatten. Auch ich war so einer. 

Wagener Volker Kommentarbild App
DW-Redakteur Volker Wagener ist Nostalgiker

Ein etwas anderes Land

Meine anfängliche historisch-politische Unkenntnis, Naivität, gepaart mit unbegründetem jugendlichen Optimismus, waren noch über Titos Tod (1980) hinaus "beste Voraussetzungen", den schon dem Tod geweihten Staat zu romantisieren. Warum auch nicht? Es klappte doch so vieles: Im Paradies der Arbeiter bestimmten die Angestellten selbst die Unternehmensziele - inklusive Löhne und Gehälter. Tennis spielen oder im Café sitzen während der Arbeitszeit - alles kein Problem. Stundenlange Busfahrten ins nahe italienische Triest zum Einkaufen gehörten zum Volkssport - auch ohne Urlaubsantrag. Entspannung pur. 

Und Jugoslawiens Wirtschaftsunproduktivität war berühmt: Durchschnittlich nur zweieinhalb Stunden echte Arbeit pro Mann/Frau-Tag. Europäischer Negativrekord schon in den späten 1970er Jahren. Das Arbeitsmotto, ein Kalauer: "Keiner kann mich so schlecht bezahlen, wie ich schlecht arbeiten kann!"  

Krisensymptom Kaffeemangel

Ökonomisch richtig abwärts ging es erst in der Nach-Tito-Ära. Fahrten in meine inzwischen schon zweite Heimat ähnelten dann kleinen Umzügen: Waschpulver mitbringen, Elektrogeräte (natürlich am Zoll vorbei) und vor allem Kaffee. Die Sorte Minas am besten, gab es an der österreichisch-jugoslawischen Grenze am Wurzen- oder Loibl-Pass. Die Abwesenheit von Kaffee, ein Krisensymptom. Und die Regale im heimischen Supermarkt "Brodokomerc" leerten sich zunehmend. Titos Rezeptur, Russen und Amerikaner gleichermaßen für das strategisch wichtige Land an der Nahtstelle der Blöcke bezahlen zu lassen, funktionierte nach seinem Ableben nicht mehr. Endgültig perdu war das Konzept des doppelten Handaufhaltens mit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Jugoslawien war plötzlich nicht mehr wichtig.

Josip Broz Tito Rede in Jajce
Tito verfolgte eine von Moskau unabhängige Politik Bild: Getty Images/Keystone

Mit dem wirtschaftlichen Niedergang brachen sich Verteilungskämpfe Bahn. Kroaten reklamierten die Einnahmen aus dem Küsten-Tourismus für sich und verweigerten Belgrad den Finanztransfer. Slowenen, die Schwaben Jugoslawiens, die in Ljubljana schon in den 1970er Jahren Mikrochips herstellten, dachten ähnlich: Warum die bettelarmen Kosovaren mitfinanzieren, die das Wasser noch aus dem Brunnen zogen? Die Stunde der Nationalisten war gekommen, die Föderation der sechs Republiken und zwei autonomen Provinzen schon Makulatur. Plötzlich neue Fragen: Wo leben Serben außerhalb Serbiens, gibt es historische Grenzen, sind bosnische Muslime eine Nation?

Verspätete Nationen

Akademische Übungen, die atavistische Hassfeldzüge in den 1990er Jahren hinweggefegt haben. Der Rausch der nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen hat den Jugoslawen (Südslawen) weit über 160.000 Tote in unfassbar brutalen Kriegen beschert. Rettungsversuche vor allem der Briten und Franzosen, den Staat als Ganzes zu retten, blieben Illusion. Die Anerkennung Deutschlands von Kroatien und Slowenien Anfang 1992 hat nichts verschärft, was nicht längst im Sinne des Staatserhalts verloren war.

Und dann die US-Bomber über Serbien: Die harmlose gastronomische Aufforderung in Deutschland vor den Kriegen "komm, lass uns zum Jugoslawen gehen", bekam plötzlich eine völlig andere Bedeutung. In der Rückschau bleibt der relative Wohlstand Jugoslawiens in Erinnerung, die offenen Grenzen und so etwas wie "neurotische Nostalgie", wie der serbische Schriftsteller Bora Cosic feststellt. Doch zurück will kaum jemand. Jugoslawien ist ein tragisches Experiment der Geschichte. Die späten Nationen im europäischen Südosten sind ein Faktum. Blutig erkauft, überwiegend enthusiastisch gefeiert, doch eigene Hymne und Fahne schaffen keine Arbeitsplätze.

Ob in Kroatien, Serbien oder Bosnien - die Jungen laufen davon. Ein Nachkriegsdrama nach dem Kriegstrauma. Bin ich als Urlauber unter "Jugos" spüre ich die Depression, die sich durch die Gesellschaften frisst. Manche Ältere wissen plötzlich die Sicherheiten sozialistischer Tage wieder zu schätzen, die Jungen hoffen auf Europa. Bei aller Sympathie für die späte Nationenbildung der Südslawen, die Briten, Franzosen oder Ungarn schon Jahrhunderte vorher errungen hatten, Jugoslawien als Desaster der Geschichte und seine Nachfolgestaaten als Krisenpatienten zu sehen, schmerzt.    

Porträt eines Mannes mit Mittelscheitel und Bart
Volker Wagener Redakteur und Autor der DW Programs for Europe