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Politik

"Es fühlte sich an, als hätte uns das Vaterland gekündigt"

Wojciech Szymanski
13. März 2018

Nach den Studentenprotesten im März 1968 mussten tausende Polen jüdischer Abstammung das Land verlassen. Heute gibt es erschreckende Ähnlichkeiten zu der damaligen Stimmung, sagt Katarzyna Weintraub im DW-Interview.

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Symboldbild Judentum
Bild: DW/P. Kajszczak

In März 1968 kippte die Stimmung in der Volksrepublik Polen. Die zunehmende Einschränkung der Freiheit der Kunst, der Wissenschaft und der Meinungsäußerung brachte Studenten auf die Straßen. Um Ruhe im Land, aber auch in den eigenen Reihen, zu schaffen, startete die kommunistische Polnische Vereinigte Arbeiterpartei eine antijüdische Hetzkampagne. Als Folge, mussten bis zu 15.000 Polen jüdischer Abstammung das Land verlassen. Eine davon war Katarzyna Weintraub.

Deutsche Welle: Denken Sie immer noch daran, was vor 50 Jahren geschehen ist?

Katarzyna Weintraub: Nein, äußerst selten. Lediglich wenn ich die Leute treffe, die damals mit mir das Land verlassen mussten, oder mit denen ich damals zusammen studiert habe. Aber ich kehre in Gedanken sehr selten dahin zurück. Ich habe es schon längst hinter mir.

Sie haben Polen mit Ihrem Mann 1971 verlassen. Sind Sie dazu gezwungen worden?

Bildergalerie Mitarbeiter der Polnischen Redaktion
Katarzyna Weintraub: "Der einzige Ort, an dem ich mich zuhause fühle, ist Polen"Bild: privat

Zunächst wollten wir gar nicht gehen. Aber im Laufe der Zeit kam es dann doch so weit. Es gab den Moment, in dem ich mich so gefühlt habe, als hätte mir regelrecht jemand in die Fresse gehauen und gesagt "du fieser Jude". Ich habe damals gedacht, sollte ich irgendwann einmal Kinder haben, will ich nicht, dass diese so etwas erleben müssen. In diesem Moment habe ich mich entschieden, das Land zu verlassen. Formell wurden wir dazu nicht gezwungen. Es war eher so, als ob uns das Vaterland gekündigt hätte. Es war sehr schmerzvoll.

Wie sah sie aus, Ihre Emigration?

Ab dem Moment, im dem wir das so genannte "Reisedokument", eine Art Einbahn-Reisepass erhalten hatten, hatten wir einen Monat um alles in Polen aufzulösen und für uns ein neues Land zu finden. Durch die Botschaft der Niederlande, die Israel in Polen vertrat (die Volksrepublik Polen brach die diplomatischen Beziehungen zu Israel nach dem Sechstagekrieg in Juni 1967 ab, Anm. d. Red.), konnte man ein Dokument beantragen, um nach Israel auszureisen. Aber wir wollten gar nicht nach Israel. Viele Leute wollten nicht nach Israel, wir waren schlicht keine Zionisten, Israel war für uns ein völlig fremdes Land. Wir wollten in Europa bleiben. Man hat sich also mit anderen Leuten ausgetauscht, welche anderen Länder noch in Frage kämen. Deutschland nahm damals nicht auf, Frankreich und England ebenfalls nicht. Die skandinavischen Länder aber doch. Wir sind also in die Schwedische Botschaft gegangen, wo wir ein Visum bekommen haben. Danach sind wir nach Schweden gezogen. Ich schloss dort mein Studium ab, mein erstes Kind kam in Schweden zu Welt.

Durften Sie danach Polen besuchen?

Ich durfte es 17 Jahre lang nicht, bis zur Wende. Einmal wurde ich sogar an der deutsch-polnischen Grenze im Zug gestoppt und mitten in der Nacht, mit einem kleinen Kind, an der Weiterfahrt gehindert, obwohl ich damals schon die schwedische Staatsbürgerschaft hatte. Es existierten jedoch so genannte "Schwarze Listen", mit den Namen derer, die nach Polen nicht einreisen durften. An der Grenze sagte man mir, ich hätte bereits eine Entscheidung getroffen und jetzt müsse ich die Folgen tragen. Zu diesem Zeitpunkt lebte ich schon in Deutschland. Ich lebte später auch in England und Belgien. Jetzt lebe ich wieder in Deutschland.

Wir treffen uns in Ihrer Berliner Wohnung. Was würden Sie sagen: Ist es Ihre Wohnung oder Ihr Zuhause? Wo ist Ihr Zuhause? Wer sind Sie eigentlich, eine Polin, Schwedin, Deutsche, Jüdin?

Zuerst bin ich eine Frau. Zweitens eine Mutter. Drittens bin ich eine Europäerin. Viertens Polin. Fünftens Jüdin. In dieser Reihe, mehr oder weniger. Was mich mit dem Judentum verbindet, ist die Gemeinschaft des Schicksals. Was mich hingegen mit Polen verbindet ist der ganze Rest - die Sprache, Geschichte, Kindheit. Der einzige Ort, an dem ich mich Zuhause fühle, ist Polen.

Haben Sie darüber nachgedacht, wie Ihr Leben verlaufen wäre, wenn es in Polen nach März 1968 keine antijüdische Hetze gegeben hätte?

Ich glaube, mein Leben wäre so weitergelaufen wie das Leben meiner Freunde, die geblieben sind. Der Fall des kommunistischen Systems in Polen war unausweichlich. Der Antisemitismus nach März 68 war doch kein Auslöser der damaligen Ereignisse. Er war seine Folge. Der Auslöser war, dass die Studenten anfingen, zu fordern, das System zu demokratisieren, und zwar im Rahmen dieses bestehenden Systems. Aber März '68 hat bewiesen, dass das innerhalb dieses System, unmöglich war.

Polen, Studentenprotest in Warschau 1968
Studenten demonstrieren am 08.03.1968 in Warschau gegen die Verhaftung ihrer Kommilitonen Adam Michnik und Henrik SzlajferBild: picture-alliance/dpa/T.Zagodzinksi

Womit kann man die antisemitische Stimmung in Polen nach März 1968 erklären? Und kann man einfach sagen, die kommunistischen Parteifunktionäre, die diese Hetze angetrieben haben, waren daran Schuld?

In jedem Land, vor allem aber in einem nichtdemokratischen Land, kommen Ereignisse vor, die man schwer beherrschen kann. Versucht man so eine Hydra wie den Antisemitismus zu instrumentalisieren, dann reicht nur ein Funke, um eine Explosion herbeizuführen. Der Antisemitismus ist in Polen tief verwurzelt. Deshalb befürchte ich, dass es in Polen jetzt wieder zu einer Situation kommt, in der man die Kontrolle verliert, was sehr schlimme Folgen haben könnte. Ich sehe leider nicht, dass irgendein Politiker versuchen würde, dieser Stimmung ein Ende zu setzen. Die Sprache der Medien in Polen ähnelt heute wieder der Sprache vom März 1968.

Es gibt in letzter Zeit dicke Luft rund um polnisch-jüdische und polnisch-israelische Beziehungen. Glauben Sie, dass schon viel Porzellan zerschlagen wurde?

Sehr viel wurde schon kaputt gemacht. Als ich mein Buch über die Erinnerung an polnische Juden vorbereitete, war ich zwei Jahre lang unterwegs in Polen. Ich habe die ehemaligen Schtetl, also die polnisch-jüdische Städtchen besucht. Ich habe da von vielen positiven Initiativen erfahren, von vielen Leuten, die sich dafür engagierten, die Geschichte dieser Orte zu entdecken und zu pflegen. Daran nahmen hunderte von Schulen teil, tausende von Schülern. Ich glaube, so ein Schüler, der etwas über die polnisch-jüdische Geschichte seines Ortes erfahren hat, wird nicht so schnell einen jüdischen Friedhof schänden. Das war also eine Arbeit, die gesellschaftliche Einstellung gefordert hat. Und jetzt wird diese ganze Arbeit umsonst sein. Das ist eine Schande.

Das Gespräch führte Wojciech Szymanski.