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Wahl zwischen Pest und Cholera

Andreas Rostek-Buetti mit Agenturen
27. August 2019

Das Ultimatum, das Italiens Staatspräsident Mattarella den Parteien gesetzt hatte, wurde locker gekippt. Die wirtschaftlichen Folgen einer langanhaltenden Regierungskrise in Italien aber sind und bleiben handfest.

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Espresso, mit Rechnung und Wechselgeld
Bild: picture-alliance/imageBroker/R.F. Steussloff

An diesem Dienstag sollten die Parteien in Rom bei Staatschef Sergio Mattarella vorsprechen und berichten, ob sie Chancen sehen, eine neue (oder alte) Regierung zu bilden. Nun haben die Hauptakteure bis Mittwoch Zeit. Neuer Streit ist um den amtierenden Ministerpräsidenten entbrannt: Giuseppe Conte soll nach dem Willen der 5-Sterne-Bewegung auch die neue Regierung führen. Die Sozialdemokraten sind strikt dagegen.

Die Alternativen liegen jedenfalls auf der Hand: Entweder eine neue Koalition findet im aktuellen Parlament eine Mehrheit, oder es gibt Neuwahlen. Diesen vorzeitigen Wahlgang will Mattarella unbedingt verhindern, und das nicht nur, weil die letzten allgemeinen Wahlen in Italien erst im vergangenen Jahr stattfanden – es gibt auch handfeste wirtschaftliche Gründe. 

Alle Beobachter sind sich nämlich einig, dass bei vorgezogenen Neuwahlen ein regulärer Haushalt für das kommende Jahr nicht mehr vom derzeitigen Parlament beschlossen werden kann. Und das hätte Folgen, die für Italien fatal sein könnten. Das Schlüsselwort ist lang und lautet Mehrwertsteuererhöhung.

Italien Premierminister Giuseppe Conte im Oberhaus
Italiens geschäftsführender Regierungschef Giuseppe ConteBild: Reuters/Y. Nardi

Bereits seit Jahren ist es nämlich Gesetz in Italien, dass die Mehrwertsteuer stufenweise Jahr für Jahr erhöht werden muss, um der gigantischen Staatsverschuldung des Landes etwas entgegenzusetzen und das chronische Haushaltsloch in Grenzen zu halten. Das Staatsdefizit liegt derzeit bei gut 133 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes.

Mehrwertsteuer bei 25 Prozent?

Die Erhöhung erfolgt automatisch – so wollen es die Haushaltsgesetze früherer Jahre –, wenn nicht Sparmaßnahmen zu vergleichbaren Ergebnissen führen. Aber ohne regulären Haushalt keine Sparmaßnahmen. Ohne regulären Haushalt würde also die Mehrwertsteuer im nächsten Jahr, und es fehlen nur noch vier Monate, auf 25 Prozent von derzeit 22 Prozent steigen.

Durch die Erhöhung, so rechnete es unlängst der "Corriere della Sera" vor, hätte das italienische Durchschnittspaar mit zwei Kindern dann 756 Euro jährlich weniger zur Verfügung. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer, so wissen Ökonomen, trifft vor allem die weniger Begüterten hart – und sie wirkt sich zügig auf den Konsum aus. Dabei steht die italienische Wirtschaft schon jetzt kurz vor einer Rezession. 

Im zweiten Quartal vermeldete das italienische Statistikamt keinerlei Wachstum. Für das gesamte laufende Jahr rechnete die EU-Kommission bei ihrer jüngsten Prognose für Italien mit einem "marginalen" Wachstum von 0,1 Prozent. Erst im kommenden Jahr soll das auf 0,7 Prozent steigen – die Prognose kam allerdings vor der derzeitigen Krise. 

Den Dreh an der Mehrwertsteuerschraube hatte schon im Jahre 2012 die Regierung Berlusconi eingeführt, folgende Regierungen gossen ihn später in Gesetzesform. Damals musste Italien im Streit mit der EU-Kommission 20 Milliarden Euro sparen.

Salvinis Versprechungen

Auch dieses Mal geht es wieder um die Vorgaben der EU, die bisherige Regierungen in Rom in aller Regel beachtet haben. Der starke Mann der italienischen Rechten, der Lega-Vorsitzende Matteo Salvini, will auf Brüssel pfeifen und kündigte bereits ein Ausgabenprogramm von 50 Milliarden Euro an, sollte er die Regierung übernehmen – ohne Mehrwertsteuererhöhung. Die Summe, die durch die höhere Mehrwertsteuer einfließen soll, liegt dieses Mal bei 23 Milliarden Euro.

Das ist nicht nur eine Kampfansage an Brüssel, es könnte sich auch als Katastrophe für das eigene Land erweisen. "Die Erhöhung der Mehrwertsteuer ist schlicht eine Steuererhöhung", befand der Handelsverband Confcommercio. "Die Regierungskrise in einer Zeit des Nullwachstums und angesichts eines möglicherweise unsicheren Haushaltsgesetzes, ist ein Hindernis für Investitionen und Konsum", so der Verbandschef Carlo Sangalli. Dabei ist jede Hoffnung auf einen Aufschwung in Italien an den privaten Konsum gekoppelt.

Italien Milan - Jobcenter
Knapp 10 Prozent Arbeitslose in Italien Bild: picture-alliance/ROPI/Grassani/Fotogramma

Auch aus dem europäischen Umfeld ist für Italien kaum Unterstützung zu erwarten: Die italienische Krise "befindet sich in einer kritischen Phase für Europa mit der Gefahr einer Rezession in Deutschland, der Einrichtung einer neuen Kommission in Brüssel und könnte zu einer deutlichen Verschlechterung des Vertrauens in die Eurozone beitragen", sagte der Chefökonom des italienischen Arbeitgeberverbandes Confindustria, Andrea Montanino.

Wachstumschwäche, Staatsschulden, Arbeitslosigkeit

Zur "italienischen Krise" gehören aber nicht nur Wachstumschwäche und Staatsverschuldung. Die Arbeitslosigkeit liegt derzeit bei knapp zehn Prozent. Im Süden verliert das Land die ausgebildeten jungen Leute, die angesichts von 28 Prozent Jugendarbeitslosigkeit abwandern. Und vor allem bei den Frauen, die bleiben, ist die Beschäftigungslage verheerend: Nur 35 Prozent von ihnen sind beschäftigt, im europäischen Durchschnitt sind es 67 Prozent.

In Schwierigkeiten steckt auch der Banksektor – vor allem bei italienischen Banken lagern hohe Bestände an italienischen Staatsanleihen, alles in allem für rund 400 Milliarden Euro. Die beiden Großbanken UniCredit und Intesa Sanpaolo verloren in den vergangenen zwölf Monaten 40 Prozent beziehungsweise 30 Prozent an Wert. 

Die Prognosen, Zahlen und politischen Aussichten lassen für Italien die Wahl zwischen Pest und Cholera: Kommt wegen vorgezogener Neuwahlen kein ordentlicher Haushalt zustande – bis Mitte Oktober müsste ein Haushaltsentwurf nach Brüssel geschickt werden –, steigt die Mehrwertsteuer und drückt auf den Konsum. Kommt es nach Neuwahlen zu einer Regierung unter Führung Salvinis drohen dank seiner 50-Milliarden-Pläne schwere Verwerfungen im Verhältnis zur EU – von den internationalen Kreditgebern Italiens gar nicht zu reden.