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IT-Industrie zwischen den Fronten

Tatjana Schweizer
15. März 2022

Der IT-Sektor war in den postsowjetischen Ländern Ukraine und Belarus ein Prestige-Bereich und versprach der jungen Generation große Perspektiven. Doch dann kam der Krieg.

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 IT Support
Bild: Westend61/imago images

Für ukrainische IT-Spezialisten gibt es im Krieg keine Arbeitspause. Sergey Tokarev, Mitgründer der IT-Firma Roosh in Kiew, ist Tag und Nacht damit beschäftigt, seine Mitarbeiter in Sicherheit zu bringen und das Geschäft am Laufen zu halten. "IT ist fast die einzige Industrie in der Ukraine, die momentan noch funktioniert und Geld ins Land bringen kann", sagt Tokarev im DW-Gespräch.

Vor dem Krieg war die IT-Industrie eine wichtige Säule der ukrainischen Volkswirtschaft, ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt vor dem Krieg lag bei über vier Prozent. Jetzt, nach dem russischen Einmarsch, liegt die Hälfte der ukrainischen Unternehmen am Boden, die wirtschaftlichen Verluste des Landes betragen laut dem ukrainischen Präsidentenberater Oleg Ustenko schon jetzt mindestens 100 Milliarden Dollar. In dieser dramatischen Lage gewinnt die ukrainische IT-Branche noch mehr an Bedeutung.

Junger Mann an einem Laptop (Symbolbild)
Junger Mann an einem Laptop (Symbolbild)Bild: picture-alliance/U.Baumgarten

Westliche Partner zeigen sich solidarisch

Aber auch die IT-Industrie ist teilweise gelähmt. Die großen Unternehmen haben zwar ihre Mitarbeiter in den Westen des Landes oder gar ins Ausland verlegen können, doch für kleine Firmen ist das nicht einfach so möglich. Manche seiner Leute müssten immer wieder zwischen ihren Wohnungen und Bunkern pendeln und lebten in ständiger Angst, beschreibt Tokarev die Situation.

Unter diesen Bedingungen scheint es unmöglich zu arbeiten. Und doch tun das trotzdem viele, denn ca. 70 Prozent aller IT-Fachkräfte arbeiten als externe Dienstleister für den westlichen Markt. Wenn sie nicht liefern, werden sie nicht bezahlt und bekommen möglicherweise keine neuen Aufträge. "Natürlich fragen manche Kunden, ob ihre Auftragnehmer noch am Leben sind und das Projekt fertigstellen werden", sagt Tokarev.

Aber, so hört man es auch aus Firmenkreisen, man verspüre auch eine große Solidarität bei den Kunden. Da werden Aufträge vorab bezahlt, ausgefallene Tage ebenso. Und auch neue Kunden melden sich.

Politische Repressionen gefährden belarussischen IT-Sektor

Dennoch sind gute Nachrichten derzeit eher die Ausnahme. In der Ukraine gilt momentan allgemeine Mobilmachung, die die Einberufung der Wehrpflichtigen und Reservisten vorsieht. Zudem dürfen männliche Staatsbürger im Alter von 18 bis 60 Jahre derzeit das Land nicht verlassen. Für die ukrainische IT-Branche, in der ca. 75 Prozent der Beschäftigten Männer sind, ein großes Problem.

Der starke ukrainische IT-Sektor ist ein Erbe der sowjetischen Bildung. Auch in Belarus ist das Bildungssystem rund um Digitalisierung sehr gut aufgestellt. In den vergangenen Jahrzehnten bildete sich hier ein attraktiver Wirtschaftssektor, der in manchen Jahren für die Hälfte des belarussischen Wirtschaftswachstums sorgte.

Doch in der einstigen IT-Oase Belarus schrumpft die Zahl der talentierten Entwickler und Manager schon seit knapp zwei Jahren. Als hunderttausende Belarussen 2020 gegen die gefälschten Wahlen und Festnahmen der politischen Gegner Lukaschenkos protestierten, rollte über das Land eine Repressionswelle, die damals viele, vor allem gut gebildete Menschen, aus dem Land getrieben hat.

Die letzten Tage des belarussischen StartUp-Hubs Imaguru in Minsk (April 2021)
Die letzten Tage des belarussischen StartUp-Hubs Imaguru in Minsk (April 2021)Bild: Bogdana Alexandrowskaya/DW

Belarussische IT-Fachkräfte schon wieder auf gepackten Koffern

Seit dem Jahr 2020 haben mehrere Tausend IT-Fachkräfte Belarus verlassen. Neben Polen war die Ukraine ein beliebtes Ziel: Viele Menschen dort sprechen Russisch, man findet sich dank der Nähe der Kulturen schnell zurecht und braucht kein Visum für die Einreise. Nach offiziellen Angaben kamen so rund 3000 belarussische IT-Spezialisten in die Ukraine. Nun müssen sie sich wieder einen neuen Ort suchen.

Aber auch in Belarus selbst kommt es derzeit zu einer zweiten Ausreisewelle in der IT-Branche. "Ein russischer oder belarussischer Entwickler zu sein ist heute toxisch", sagt der Vorstandsleiter der belarussischen Investorenvereinigung Angels Band, Valery Ostrinsky. Das Image spiele in der Branche eine viel wichtigere Rolle als der aktuelle Gewinn. Charterflüge aus Belarus in Richtung Armenien oder Georgien kommen nach Ostrinskys Quellen an ihre Grenzen - Unternehmen bringen ihre Mitarbeiter aus dem Land, um das Geschäft zu retten.

Informatiker in einem Rechenzentrum (Symbolbild)
Informatiker in einem Rechenzentrum (Symbolbild) Bild: picture-alliance/dpa/J.Woitas

"Ukraine wird ein IT-Paradies"

Auch Andrej (Nachname der Redaktion bekannt, d.Red.) hat seine Heimatstadt Gomel, wo er seit drei Jahren bei einem IT-Unternehmen arbeitet, vor kurzem verlassen müssen. "Die Kunden haben uns gesagt, dass sie mit dem Standort in Belarus nicht mehr arbeiten möchten", sagt der Softwaretester. In Belarus hat er 2020 eine Freiheitsstrafe verbüßen müssen, weil er gegen das Lukaschenko-Regime demonstriert hat. Der Zugang zu vielen Jobs, besonders im staatlichen Sektor, ist für Andrej somit verwehrt. Bei den privaten IT-Unternehmen wäre das zwar kein Problem, doch sollten die das Land verlassen und er würde bleiben, gäbe es für ihn keine Arbeit mehr. "Ich wollte den Job nicht verlieren und habe mich entschieden, schnell die Sachen zu packen", sagt er. Heute ist Andrej wie viele andere seiner Kollegen in Tiflis.

Neben dem Image-Problem stellen auch die Wirtschaftssanktionen ein Problem für die international aufgestellten IT-Unternehmen dar, erläutert der belarussische Wirtschaftswissenschaftler Lev Lvovskiy. Die meisten Unternehmen wollen sich über die Verlegung ihrer Mitarbeiter nicht äußern. Daher sei es noch schwer einzuschätzen, wie groß der Schaden dieses Brain-Drains für Belarus sein wird. "Unsere Aussichten liegen aber zwischen 'schlecht' und 'furchtbar'", sagt er.

Ganz anders sehe es für die ukrainische Tech-Zukunft aus, ist sich Sergey Tokarev sicher. Schon heute wechseln viele Unternehmen von russischen Partnern zu ukrainischen. Die zahlreichen Talente zusammen mit der großen internationalen Solidarität sind laut Tokarev der Weg zum Erfolg: "Wenn der Krieg vorbei ist, werden wir ein IT-Paradies in der Ukraine schaffen und zu einer echten Wirtschaftslokomotive werden."