1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Das Leben der Bootsflüchtlinge

Kirstin Hausen18. Oktober 2013

Italiens Küstenwache rettet mehr Bootsflüchtlinge vor dem Ertrinken als andere Länder Südeuropas. Doch wer heil im Land angekommen ist, hat noch lange keine Aussicht auf ein menschenwürdiges Leben.

https://p.dw.com/p/1A0mJ
Afrikanische Migranten bei der Orangenernte in Kalabrien (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Der Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer, von Nordafrika nach Südeuropa, reißt nicht ab. Auf seeuntüchtigen Barkassen riskieren jede Woche Hunderte Menschen ihr Leben - auf der Suche nach einer menschenwürdigen Existenz. Italiens Küste ist ihr Ziel, denn hier sehen sie die größten Chancen, an Land zu kommen. Besonders die Insel Lampedusa ist zum Hoffnungsträger der Bootsflüchtlinge geworden und die Straße von Sizilien zu einer dicht befahrenen Wasserstraße der Verzweiflung.

Eingesperrt im Aufnahmelager

Wenn es schief geht und die Opferzahlen hoch genug sind, dann schaut die Welt betroffen nach Sizilien. Wenn die Überfahrt klappt, werden die Bootsflüchtlinge in Aufnahmelager eingesperrt, wo sie eigentlich nur ein paar Tage verbringen sollen, in Wirklichkeit aber monatelang warten. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit, denn kaum jemand erhält Zutritt zu diesen Lagern.

Auffanglager in Bari (Foto: AP)
Aufnahmelager in SüditalienBild: AP

Als Italiens Regierungschef Enrico Letta Lampedusa gemeinsam mit EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso besuchte, musste er das offizielle Besichtigungsprotokoll verletzen, um überhaupt einen Blick auf die auf engem Raum zusammengepferchten Flüchtlinge werfen zu können.

Die Europäische Union hat Italien 30 Millionen Euro zugesagt, um den Flüchtlingsnotstand zu bewältigen. Innenminister Angelino Alfano hat das mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. Für ihn ist das Flüchtlingsproblem "kein italienisches, sondern ein europäisches Problem", und die Europäische Union müsse gemeinsam nach einer Lösung suchen.

Die meisten Bootsflüchtlinge, die es an Land schaffen und in ein Aufnahmelager kommen, warten dort nur auf ihre Abschiebung zurück ins Herkunftsland. Italiens Einwanderungspolitik ist trotz des humanen Umgangs mit Schiffbrüchigen streng. Nur wer einen Arbeitsvertrag hat, darf bleiben. Italienische Hilfsorganisatoren prangern diese Praxis als heuchlerisch und unrealistisch an, denn kaum ein italienischer Arbeitgeber stellt jemanden ein, den er noch nie gesehen hat und der sich aus Mali oder Eritrea bewirbt. Das wissen die Flüchtlinge inzwischen, und sie stellen sich auf ein Leben in der Illegalität ein. Wer kann, flüchtet aus den Aufnahmelagern, verschwindet nach Norditalien oder sogar nach Nordeuropa. So leben Hunderttausende Menschen ohne gültige Papiere in Italien, aber auch in Frankreich, Deutschland und den Beneluxstaaten. Ihre Dunkelziffer wird noch höher geschätzt. Sie sind nirgendwo gemeldet, existieren für die Behörden also nicht. Trotzdem müssen sie irgendwo schlafen, etwas essen und sich versorgen.

Die "Irregolari" und die Profiteure

Wer mit offenen Augen durch Mailand geht, sieht die Spuren der "Irregolari", derjenigen, die keinen regulären Aufenthaltsstatus haben, sondern illegal im Land leben. Wäscheberge in Autowracks, Campingkocher und Zelte unter einer Autobahnbrücke. Sie hausen in verlassenen Fabriken, in Abbruchhäusern ohne Strom und Wasser.

Afrikanische Migranten im Hafen von Taranto (Foto: AP)
Leben am Rande der Gesellschaft: afrikanische Migranten im Hafen von TarantoBild: AP

Der Tunesier Khaled, 42 Jahre alt und seit zwei Jahren in Italien, übernachtet in einem schrottreifen Ford ohne Nummernschild. Im abschließbaren Kofferraum hat er seine Wertsachen, die Wäsche liegt in ordentlichen Stapeln auf dem Rücksitz. Eines der Seitenfenster ist zersplittert, das macht ihm Sorge. Nachts sinkt die Temperatur auf acht bis zehn Grad und der Pappkarton, mit dem er die Scheibe ersetzt hat, lässt die Kälte durch. Nach acht Monaten im Aufnahmelager von Lampedusa wurde er in ein Flüchtlingszentrum auf dem Festland verlegt, aus dem er flüchtete. Er kam nach Mailand, auf der Suche nach Arbeit. Jeden Morgen geht er zu einem Kreisverkehr nahe der Autobahn, wo bereits andere Flüchtlinge aus Afrika in Gruppen beisammen stehen. Im Rucksack hat er eine Flasche Wasser und zwei Brote. Zwischen den Autos der Pendler, die aus ihren Wohnorten im Umland zur Arbeit nach Mailand kommen, fallen einige Lieferwagen und Pick-ups auf, die betont langsam fahren. Das sind die "Caporali", die Anwerber. Sie begutachten Männer wie Khaled, die ihre Arbeitskraft zu Spottpreisen anbieten, und entscheiden dann, wer mitfahren darf.

"Das ist der Mailänder Sklavenmarkt ", sagt der Gewerkschafter Franco De Alessandri grimmig. Er hat das Geschehen heimlich gefilmt und dem Polizeipräsidenten vorgelegt. Doch geändert hat sich seitdem nichts. "Diese Arbeiter sind mit den italienischen Arbeitern nicht vergleichbar. Sie haben weder ein Haus noch eine Familie hier. Sie sind allein und ohne Papiere haben sie keine Rechte. Sie werden nach Strich und Faden ausgenutzt." Viele verdingen sich als Tagelöhner auf Baustellen, wo sie für einen Hungerlohn schuften. Ohne Arbeitsvertrag, Krankenversicherung. Franco de Alessandri könnte platzen vor Wut angesichts dieser menschenverachtenden Praxis. Für die italienischen Arbeitnehmer sind die Einwanderer ohne Papiere Konkurrenten, die zu Dumpinglöhnen schuften. Doch für die Flüchtlinge ist Schwarzarbeit die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen, und sei es noch so wenig.

Italienische Küstenwache auf der "Isola dei Conigli" vor Lampedusa
Warten auf das nächste Flüchtlingsboot: italienischer Soldat auf der "Isola dei Conigli" vor LampedusaBild: picture alliance / ROPI