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Politik

Die Macht der informellen Netze

Alexander Görlach
3. September 2019

In dem Buch "Türme und Plätze" des Historikers Niall Ferguson geht es darum, wie Netzwerke die Geschichte beeinflussen. Diese These hilft, aktuelle Konflikte wie in Hongkong besser zu verstehen, meint Alexander Görlach.

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Zitattafel Alexander Görlach 03.09.2019

Offizielle Hierarchien verlaufen von oben nach unten - das ist die Kernthese von "Türme und Plätze", dem aktuellen Buch des US-amerikanischen Historikers Niall Ferguson. So funktionieren Staaten, Unternehmen, die Kirche, das Militär. Ferguson schaut allerdings auf die anderen, auf die informellen Netzwerke, die nicht hierarchisch sind. Sie offenzulegen ist für einen Historiker schwerer, da die Archive, in denen er sich tummelt, von denen angelegt sind, die die Hierarchien verkörpern. Informell bedeutet: wer ist mit wem vernetzt, wer ist wessen politischer Berater. Damit ist nicht Klüngel - eine Denunziation, die von Menschen genutzt wird, die keine informellen Netzwerke haben - gemeint, sondern legitime Kontakte, die sich über die Zeit aufbauen und sich aus dem zunehmenden Vertrauen der Beteiligten speisen.

Das Zeitalter der informellen Netze

Die gegenwärtige Zeit ist das Zeitalter der informellen Netzwerke. Was früher kleinere Zirkel betraf, ein Netzwerk wie die Freimaurer zum Beispiel, auf die Ferguson in seinem Buch zu sprechen kommt, hat heute eine globale Skalierung. Das soziale Netzwerk Facebook lebt, wie die anderen Netzwerke auch, davon, dass Menschen sich organisieren und finden können auf der Basis der Interessen, die sie verbinden. Deshalb ist es für Peking, die Führung der kommunistischen Autarkie der Volksrepublik China, unmöglich, die Proteste in Hong Kong einzudämmen.

Peking 1989 Studentenproteste Pro Demokratie Mann vor Panzer
Antiquiertes Verhalten: Mit Panzern gegen den ProtestBild: picture alliance/dpa

In der antiquierten Logik Xi Jinpings genügt das Verhaften von Demokratie-Aktivisten und das Auffahren von Panzern, um Proteste und den Schrei nach Freiheit zu unterdrücken. Das war 1989 noch möglich, als Panzer, Geschosse und Knüppel den Demonstrationen auf dem Platz des Himmlischen Friedens gewaltsam ein Ende bereiteten. Die Demokratiebewegung heute in Hongkong hat keinen Anführer, den man verhaften könnte. Die Proteste sind nicht zentral organisiert. Allen, die sich daran beteiligen, und das sind Millionen aus verschiedenen Schichten, mit verschiedenen Hintergründen und Lebensgeschichten, sind die Werte gemeinsam, die diese Bewegung teilen: Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte.

Das sind, grob gesprochen, auch die Faktoren, die die Protestbewegungen in Russland und der Türkei am Leben erhalten. Die Menschen artikulieren, so wie es früher aufgrund technischer Einschränkungen nur Eliten vorbehalten waren, ihre Werte und die Vision, wie sie sich ihr Leben vorstellen. Und sie artikulieren so Forderungen an die, die das Land führen. Dass sich Hierarchien so verändern und verwandeln in mäandernde, die vielen einschließenden Gebilde, macht es selbst Demokratien, die eingespielte Top-down-Prozesse haben, schwerer, Politik auszuführen und Leadership zu zeigen. Die Anzahl der Stimmen, die sich äußern, hat sich, verglichen mit früher, erheblich erhöht. Das Sammeln von Daten, das Bestimmen ihrer Relevanz und am Ende ihre Deutung war schon in analogen Zeiten schwierig. Es ist nicht leichter geworden.

Neue Parameter

Für die Demokratie bedeutet das aber keine Bedrohung ihrer Existenz. Hier müssen die Parameter von Beteiligung und Repräsentanz überdacht und renoviert werden. Es ist heute jedem klar, dass man kein Wahlmännerkollegium wie in den USA mehr braucht. Das stammt aus einer Zeit, in der gewählte Repräsentanten, eben die Wahlmänner, auf dem Pferderücken nach Washington galoppierten, um dort zu übermitteln, wie abgestimmt worden war. Auch demokratische Institutionen können sehr beharrlich sein und sich dem Wandel verschließen. Der Unterschied zu den Diktatoren und Autokratien ist, dass sie nur und ausschließlich hierarchisch operieren können.

In einer auf Menschenrechten fußenden Welt, in der die Auffassung grundlegend ist, dass alle Bürgerinnen und Bürger einer Demokratie mit gleichen Rechten ausgestattet sind, ist es nur folgerichtig, dass sich alle als gleiche Kommunikationsteilnehmer verstehen, auf Augenhöhe mit denen, die sie für eine bestimmte Anzahl von Wahlperioden repräsentieren. Die Volksrepublik China versucht deshalb gezielt, diese Vorstellung der individuellen Menschenrechte zu unterwandern und durch andere, rein ökonomische, zu ersetzen. Verkürzt sagt Peking: Weil wir die Armen aus der Armut befreit haben, müssen sie uns für immer dankbar sein. Menschenrecht ist, dass man was zu essen auf dem Tisch hat.

Hongkong China Protest Schüler Studenten
Organisiert über informelle Netzwerke: Schüler protestieren in HongkongBild: Reuters/K. Pfaffenbach

Von Brecht wissen wir, dass erst das Fressen und dann die Moral kommt. Aber auch das war in einer hierarchisch organisierten Welt. Dort, wo es freies Internet gibt, solidarisieren sich Menschen und definieren Ziele, für deren Verwirklichung sie sich einsetzen. Das China daher auf totale Überwachung setzt (und dafür auch die Mittel und das Know-how hat), kann nur als zwingende Konsequenz aus der Ent-Hierarchisierung der Macht-Strukturen gedeutet werden.

Die Machthaber in Peking, Moskau und Ankara werden über die Zeit den Kürzeren ziehen, wenn man in Demokratien diese neue Form der Netzwerke schneller zu nutzen und zu umarmen lernt als Diktatoren sie mit Überwachung und Zensur unterdrücken können.

Alexander Görlach ist Senior Fellow des Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Senior Research Associate an der Universität Cambridge am Institut für Religion und Internationale Studien. Der promovierte Linguist und Theologe war zudem in den Jahren 2014-2017 Fellow und Visiting Scholar an der Harvard Universität, sowie 2017-2018 als Gastscholar an der National Taiwan University und der City University of Hongkong.