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PolitikGlobal

Hagia Sophia und der Missbrauch von Religion

Alexander Görlach
4. August 2020

Es ist nicht so, dass es es in Istanbul zu wenige Moscheen gegeben hätte - ganz im Gegenteil. Bei der Wiedereinrichtung der Hagia Sophia als Moschee geht es um etwas ganz anderes, meint Alexander Görlach.

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Zitattafel Alexander Görlach

Es gibt drei laizistische Länder auf der Welt: Frankreich, die Türkei und Mexiko. Nach den mexikanischen Revolutionsjahren, die 1924 vorüber waren, schaute man von dort in die Türkei, die im Jahr zuvor laizistisch geworden war. Ob katholisch oder sunnitisch, ob in der Neuen oder der Alten Welt - die Idee der Trennung zwischen Politik und Religion nahm in dieser Phase einen neuen Anlauf. Sie steht auf dem Mutterboden der Französischen Revolution, die den Geistlichen Stand mit seinen Privilegien, Reichtümern und Pfründen auf das Schafott führte.

Konflikt- oder gar gewaltfrei ging es dabei weder in Mexiko noch der Türkei zu. Die von der Religion bestimmte alte Ordnung, die über Jahrhunderte das Lebensrad der Menschen gedreht hatte, konnte nicht per Dekret zum Stillstand verordnet werden. Seit der Gründung der laizistischen Republik gab es daher auch immer Bestrebungen, die Reformen Atatürks zurückzunehmen.

Die Abkehr von Atatürks Reformen

In der Hauptstadt des katholisch geprägten Mexiko wird einem kein einziger Priester und keine Nonne begegnen, die an ihrer geistlichen Bekleidung erkennbar wären. Doch zum Heiligtum der Madonna von Guadeloupe vor den Toren des laizistischen Bollwerks pilgern jedes Jahr Millionen von Menschen - viele auf den Knien und von weit her.

Türkei Gericht ebnet Weg zur Umwandlung der Hagia Sophia
Die Hagia Sophia: über Jahrhunderte die größte Kirche der Welt, fast 500 Jahre Moschee, beinahe 100 Jahre Museum, jetzt wieder Moschee. Auf jeden Fall einer zentralen touristischen Anziehungspunkte IstanbulsBild: picture-alliance/AP Photo

Nun ist eine der symbolträchtigen Veränderungen der Atatürk'schen Reformen aufgehoben worden: die Hagia Sophia, einst die größte Kirche der Christenheit, nach der  Eroberung der Stadt 1453 durch Sultan Mehmed II. entweiht und in eine Moschee umgewandelt, von Atatürk zu einem Museum gemacht, ist nunmehr wieder eine Moschee. Der türkische Machthaber Erdogan hat diesen Schritt durchgesetzt.

Schon 2003 bei seiner ersten Wahl zum Ministerpräsidenten machte er sich zum Anwalt der, wie er sagte, "braunen Türken" - der religiösen Menschen im Lande. Mit ihnen positionierte er sich gegen die "weißen Türken", zu denen er die laizistische Elite und das Militär zählt. Für die Menschen, die Erdogan seit Anbeginn auf seinem Marsch durch die laizistischen Institutionen gefolgt sind, war der Dhu'l-Hijjah 3, 1441 im Jahr der Hidschra (der 24. Juli 2020 im Jahre des Herrn), glorreicher Schlusspunkt einer Entwicklung, der sie entgegen gefiebert haben: Zum ersten Mal nach 86 Jahren erschallte wieder der islamische Gebetsruf in der "Kirche der Weisheit". Für diejenigen, die hofften, dass die Institutionen der säkularen Republik eine Re-Islamisierung erfolgreich abwehren könnten, muss dieser Tag eher wie ein dumpfer Paukenschlag geklungen haben.

Türkei Istanbul Präsident Erdogan in Hagia Sophia zum Freitagsgebet
Natürlich war Staatspräsident Erdogan beim ersten Freitagsgebet in der Hagia Sophia am 24. Juli mit dabeiBild: picture-alliance/AA/M. Kamaci

Es geht Agitation, nicht um die Gebetsstätte

Bei der Wiederinbesitznahme der Hagia Sophia als Gotteshaus geht es nicht darum, eine kultische Gebetsstätte für den Islam zu erschließen. Moscheen gibt es genug in Istanbul, was übersetzt heißt "die vom Islam erfüllte". Vielmehr tritt hier der Islamist Erdogan zu Tage, der zu Zeiten, als er noch nicht so mächtig war, in der laizistischen Republik für seine radikalen Sätze ins Gefängnis gehen musste: "Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind." Oder: "Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten."

Nicht nur er, viele weitere sogenannte "strongmen", von Putin bis Xi Jinping, benutzen die Religion, um Menschen für ihre politische Agitation geschmeidig zu machen. Wem das abseitig erscheint, der mag sich die Aussage von Ali Erbas, des Präsidenten des türkischen Religionsministeriums, das einst eigentlich gegründet wurde, um den radikalen Islam in Schach zu halten, zu Gemüte führen: "Hoffentlich wird die Auferstehung der Hagia Sophia zum Vorboten der Befreiung der Al Aqsa-Moschee." Hier wird also, im wahrsten Sinne des Ausspruchs, "par ordre du mufti" eine "Befreiung" Jerusalems von den Juden und Christen als politisch-spirituelles Ereignis herbei gesehnt.

Axt am Baum des friedlichen Zusammenlebens

Ob Präsident Erdogan wirklich an Gott glaubt, das weiß in der Tat nur der Allmächtige allein. Ein Christenmensch darf hoffen, dass alle, die in dieser großartigen Kirche beten, beim Anblick ihrer schwebenden Kuppel etwas von jenem friedlichen himmlischen Jerusalem erahnen, von dem die Heilige Schrift spricht und das dem türkischen Obertheologen so fremd scheint.

Für die vielen Menschen hingegen auf der Welt, denen Religion nicht so wichtig ist, sind "strongmen", die Religion instrumentalisieren, gefährlich: Jeder Mensch lebt heute mit anderen Menschen zusammen, die einen anderen oder gar keinen Glauben haben. Über das Internet haben wir Wissen um die Kulturen der Welt, die Lebensweise und den Glauben von Menschen, denen wir nie begegnen werden. Es gibt religionsverschiedene Ehen, Kinder verschiedener Bekenntnisse begegnen sich Tag für Tag. Die Welt ist in der Tat eine pluralistische geworden.

Türkei Istanbul Hagia Sophia vor erstem Freitagsgebet
Nicht die Fahne des Islam, sondern die türkische Fahne wurde beim ersten Freitagsgebet vor der Hagia Sophia geschwenktBild: Reuters/U. Bektas

Es war ein langer Weg, den die Menschheitsfamilie bis hierher zurück gelegt hat. An den Baum des friedlichen Zusammenlebens legen diejenigen die Axt, die mit symbolträchtigen Handlungen und harter Rhetorik die Überlegenheit ihrer Religion gegenüber allen anderen postulieren und Menschen so gegeneinander aufwiegeln wollen. Damit schaden sie am Ende dem Glauben selbst, von dem Muslime, Christen und Juden gemeinsam bekennen, dass er doch himmlischen Ursprungs sei.

Alexander Görlach ist Senior Fellow des Carnegie Council for Ethics in International Affairs und Senior Research Associate an der Universität Cambridge am Institut für Religion und Internationale Studien. Der promovierte Linguist und Theologe war zudem in den Jahren 2014-2017 Fellow und Visiting Scholar an der Harvard Universität, sowie 2017-2018 als Gastscholar an der National Taiwan University und der City University of Hongkong.