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Genitalverstümmelung: Weit weg? In Europa!

Theresa Krinninger6. Februar 2016

Frauen, die von Genitalverstümmelung bedroht sind, finden in der EU Schutz - theoretisch. Denn in der Praxis ist das nicht so einfach. Und, schlimmer noch: Die grausame Misshandlung geschieht auch in Europa.

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Somalia Genitalverstümmelung
Bild: Getty Images/AFP/N. Sobecki

Sie nimmt eine Rasierklinge, eine Schere oder ein Messer. Dann setzt sie an und schneidet die Schamlippen des Mädchens samt Klitoris heraus. Eine Betäubung gibt es nicht und oft auch keine Desinfektion. Danach näht die Beschneiderin die Schamlippenstümpfe zusammen. Was bleibt: ein streichholzgroßes Loch zum Urinieren - und lebenslange körperliche und seelische Schmerzen.

Solche Szenen spielen sich täglich weltweit ab. Vor allem am Horn von Afrika, in Westafrika, im Nahen Osten und in Asien werden Frauen Opfer dieser Praxis. Nach Angaben der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes weist Somalia die höchste Rate auf. Dort sind etwa 98 Prozent der Frauen zwischen 15 und 49 Jahren genitalverstümmelt. Auch in den Nachbarländern Äthiopien und Sudan liegt die Rate weit über 70 Prozent. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass mindestens 150 Millionen Frauen weltweit beschnitten sind. Jährlich werden drei Millionen Mädchen Opfer der Verstümmelung.

Asylanspruch mit Grauzonen

Frauen, die vor einem drohenden Eingriff nach Europa fliehen, können in EU-Ländern Asyl beantragen. "Das europäische Asylrecht basiert auf der Genfer Flüchtlingskonvention, die den Flüchtlingsstatus festlegt", erklärt Sophie Forrez von der belgischen Rechtsberatungsorganisation Intact im DW-Interview. "Darauf können sich Frauen berufen, die eine Genitalverstümmelung befürchten." Eine bevorstehende Genitalverstümmelung gelte demnach als Verfolgung.

Weibliche Genitalverstümmelung Amnesty International Foto: picture-alliance/dpa/A. Burgi
Aktivisten und Frauenrechtler in Europa fordern: Null Toleranz für weibliche GenitalverstümmelungBild: picture-alliance/dpa/A. Burgi

Vielen geflüchteten Frauen sei dies aber nicht bekannt, sagt Linda Ederberg von Terre des Femmes im Gespräch mit der DW. Zudem machten die EU-Asylbehörden einen Unterschied. "Ist die Genitalverstümmelung schon vollzogen, so ist dies kein Asylgrund". Wenn hingegen eine akute Bedrohung bestehe, müssten die Frauen das den Behörden glaubhaft machen, so Ederberg. Für die belgische Beraterin Forrez bewegt sich das Asylrecht hier in einer Grauzone. Eine Frau, die die Tortur schon einmal durchgemacht habe, sei leider nicht immer vor einer zweiten gefeit.

Klare Vorgaben, willkürliche Handhabung

Bislang entscheiden die Asylbehörden von Frau zu Frau unterschiedlich - und lehnen eine bevorstehende oder bereits vollzogene Genitalverstümmelung als Asylgrund oft ab. Und das, obwohl die Europäische Kommission bereits verbindliche Richtlinien zum Umgang mit Genitalverstümmelung erstellt hat. Die Richtlinien geben etwa vor, dass Frauen in Aufnahmezentren sensibel behandelt werden müssen. Asylsuchende Frauen und Mädchen sollen demnach schon aufgrund ihres Alters und ihrer Herkunft als gefährdete Personen eingestuft werden. So will man auch Frauen helfen, die sich aus Scham oder Unwissenheit nicht von ihrem Schicksal sprechen.

"Alle EU-Länder hätten bis Juli 2015 ihre nationalen Gesetze den EU-Richtlinien angleichen müssen", sagt Forrez. Das sei jedoch bis jetzt nicht passiert. Die EU-Kommission leite derzeit Verfahren gegen Länder ein, die die Richtlinien bis jetzt noch nicht umgesetzt hätten.

Verbreitete Praxis auch in Europa

Aber längst sind Frauen auch in Europa nicht mehr gefeit vor Genitalverstümmelung. Schätzungen zufolge lebt nicht nur eine halbe Million bereits Betroffener in Europa, 180.000 Mädchen und Frauen sind auch hier akut von Genitalverstümmelung bedroht. Genaue Zahlen gibt es nicht. "Wir von Terre des Femmes führen eine eigene Schätzung der Betroffenenrate in Deutschland durch, weil es von staatlicher Seite bisher keine offizielle Datenerhebung gibt", sagt Ederberg. So sei das auch in vielen anderen EU-Ländern.

Berlin Eröffnung Desert-Flower-Center Krankenhaus Waldfriede Foto: Stephanie Pilick/dpa
2013: Waris Dirie bei der Eröffnung des "Desert-Flower-Center" Krankenhauses Waldfriede in BerlinBild: picture-alliance/dpa

"Genitalverstümmelung ist auch in Europa weit verbreitet. Zwar gibt es in ganz Europa Gesetze dagegen, die werden aber leider nicht kontrolliert", sagt Walter Lutschinger im Gespräch mit der DW. Er ist Geschäftsführer der österreichischen Desert Flower Foundation, die er 2002 zusammen mit der ehemaligen UN-Sonderbotschafterin Waris Dirie gegründet hat. Für den angemessenen Umgang mit den betroffenen Frauen in Europa fehle auch weiterhin das Bewusstsein, sagt Lutschinger - zum Beispiel im Gesundheitssystem. Deshalb rief seine Stiftung 2013 das Krankenhaus Waldfriede in Berlin ins Leben. Mit seinen Beckenbodenmedizinern, Psychologen und Seelsorgern bleibt es europaweit ein Vorreiter in der ganzheitlichen Behandlung von Beschneidungsopfern.

Außerdem müssten die Frauen in der Diaspora besser über die Rechtslage im europäischen Aufnahmeland informiert werden, fordert Community-Arbeiterin Idah Nabateregga. Für Terre des Femmes berät sie potenzielle Opfer von Genitalverstümmelung. Sie spürt Frauen auf, die in Europa heimlich Beschneidungen durchführen, und versucht, sie von ihrer Überzeugung abzubringen.

"Die Communities müssen für diese Gesetze sensibilisiert werden, über ihre Rechte und die Schutzmechanismen, die Deutschland und Europa zu bieten hat", von Terre des Femmes. Wenn die Mädchen davon wüssten, könne man sie auch besser beschützen. In Deutschland wurde Genitalverstümmelung 2013 erstmals explizit ins Strafgesetzbuch aufgenommen. Beschneider müssen mit Haftstrafen von bis zu 15 Jahren rechnen. Das sei aber nicht genug, sagen Frauenrechtler. Sie fordern europaweit einheitliche Datenerhebungen, eine bessere Aufklärung und ein sensibleres Asylsystem. Bis zu einem angemessenen Umgang mit Genitalverstümmelung bleibt ein langer Weg - auch in Europa.