Bevorzugen EU-Länder ukrainische Flüchtlinge?
9. November 2022Knapp acht Millionen ukrainische Schutzsuchende wurden seit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar in Europa registriert. Die Europäische Union hat ihre Grenzen geöffnet und gewährt ihnen vorübergehenden Schutz. Die meisten Kriegsflüchtlinge, gut 1,4 Millionen, haben in Polen Zuflucht gefunden.
In Deutschland waren am Stichtag 1. November insgesamt 1.019.789 Personen, die im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine nach Deutschland eingereist sind, im Ausländerzentralregister (AZR) erfasst. Flüchtlingsorganisationen beklagen eine Zwei-Klassen-Behandlung seitens europäischer Länder für Menschen aus der Ukraine und Flüchtende aus anderen Krisenregionen - und warnen vor Konflikten.
Behauptung: Flüchtlinge aus der Ukraine haben Vorrang.
"Beim Flüchtlingsgipfel hat [Innenministerin] Faeser die Chance für eine Wende in der Geflüchtetenpolitik verpasst. Die Zweiklassenpolitik und der dahinter steckende Rassismus schadet Deutschland", postete der grüne EU-Abgeordnete Kassem Taher Saleh.
DW-Faktencheck: Richtig.
Um den Menschen aus der Ukraine unbürokratisch Schutz zu gewähren, hat die EU am 4. März dieses Jahres ihre Grenzen geöffnet. Flüchtende aus der Ukraine können ohne Visum in die EU einreisen und brauchen keinen Antrag auf Asyl zu stellen, denn laut des sogenannten Durchführungsbeschluss des EU-Rates genießen sie in der EU vorübergehenden Schutz.
In Deutschland benötigen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die bis zum 30. November 2022 einreisen, für die ersten 90 Tage ebenfalls kein Visum. Nach Ablauf der Frist müssen sie sich um einen Aufenthaltstitel bei der Ausländerbehörde bemühen. Die Regelung ist laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bis zum 28. Februar 2023 befristet.
Je nach Land haben Flüchtende aus der Ukraine unterschiedliche Ansprüche auf Sozialleistungen. In Deutschland sind Flüchtende aus der Ukraine seit dem 1. Juni in das Sozialhilfesystem eingegliedert und erhalten eine Arbeitserlaubnis sowie Zugang zur gesetzlichen Krankenversicherung, Hartz-IV-Leistungen, Kindergeld, Bafög und Grundsicherung im Alter. Außerdem ist die Einreise nach Deutschland mit derBahn für Flüchtende aus der Ukraine kostenlos. Die Bahn bietet auch nach der Einreise zahlreiche Vergünstigungen im Nahverkehr an.
Im Gegensatz zu den Menschen aus der Ukraine erhalten Flüchtende aus anderen Krisenregionen wie Syrien, Afghanistan, Eritrea und dem Irak weiterhin Zuwendungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, die geringer sind. Sie bekommen erst nach monate- oder jahrelangem Verfahren eine Aufenthaltserlaubnis. Als anerkannte Flüchtlinge haben sie dann ebenfalls Zugang zum Sozialsystem.
Flüchtlingsorganisationen haben diese ungleiche Behandlung in einemoffenen Brief an Bundesarbeitsminister Hubertus Heil kritisiert.
Die Bundesbeauftragte für Flüchtlinge und Integration, Reem Alabali-Radovan, kündigt im Gespräch mit der DW Reformen an: "Die Ungleichbehandlung zwischen Geflüchteten beschäftigt mich seit Monaten. Und ich sage ganz klar: Wir haben schon vor dem Ukraine-Krieg im Koalitionsvertrag vereinbart, dass wir Verbesserungen für viele Geflüchtete auf den Weg bringen wollen, und die müssen jetzt schnell kommen, damit diese Situation sich ändert."
Behauptung: Nicht-ukrainische Flüchtlinge aus der Ukraine werden diskriminiert.
"Die nigerianische Aktivistin Chizoba hat in Polen Hunderten von schwarzen Flüchtlingen aus der Ukraine geholfen. In meinen Interviews schildern sie mir Rassismus als alltägliches Problem", schreibt etwa der US-amerikanische Reporter Terrell Jermaine Starr, der aus der Ukraine berichtet, auf Twitter.
DW-Faktencheck: Unbelegt.
Auch gegenüber Medien wieder BBC haben nicht-weiße Flüchtende vor allem in der Anfangsphase des Krieges über Diskriminierung berichtet. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International hat die Situation im März vor Ort beobachtet und stellte fest: Flüchtlinge aus der Ukraine ohne ukrainischen Pass, vor allem People of Colour,würden sowohl in der Ukraine als auch in den Aufnahmeländern diskriminiert.
Man habe mit 27 Geflüchteten mit internationaler Geschichte gesprochen, von denen viele von "diskriminierender Behandlung beim Einsteigen in Züge oder Busse und an den Grenzkontrollstellen" berichtet hätten, einige sogar "von körperlichen und verbalen Übergriffen durch ukrainische Kräfte und Freiwillige". Studierende aus Pakistan, dem Nahen Osten oder Afrika seien etwa bereits in der Ukraine immer wieder daran gehindert worden, in einen der Züge einzusteigen, um auszureisen.
Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR hat die Vorwürfe ebenfalls untersucht und kommt zu einem etwas anderen Ergebnis. Auf DW-Anfrage erklärt Pressesprecher Chris Melzer, die polnischen Grenzbehörden hätten "niemanden nicht eingelassen, sondern haben stattdessen allen Menschen Schutz geboten. Nach meinen Kenntnissen wurden die Flüchtlinge vor die Wahl gestellt, entweder Polen innerhalb von 16 Tagen zu verlassen oder einen förmlichen Asylantrag zu stellen".
Zwar sei es richtig, dass Flüchtende ohne ukrainischen Pass an der Grenze zu Polen länger festgehalten worden seien. Dabei habe es sich allerdings ausschließlich um Menschen gehandelt, die keinerlei Papiere bei sich hatten und wo es schwierig war, die Identität zu überprüfen.
In Deutschland werden nicht-ukrainische Flüchtlinge aus der Ukraine laut Bundesamt für Migration (BAMF) wie ukrainische Flüchtlinge behandelt, wenn sie dort vor dem 24. Februar entweder als Flüchtlinge anerkannt waren oder eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis besaßen und nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können.
Dies betrifft nach Angaben des Mediendienstes Integration derzeit rund 34.000 Kriegsflüchtlinge, von denen 14.400 bereits nach der EU-Massenzustrom-Richtlinie vorübergehenden Schutz erhalten haben.
Wer allerdings in der Ukraine nur über eine befristete Aufenthaltserlaubnis verfügte und nach Deutschland geflohen ist, was auf viele Studierende zutrifft, unterliegt nach Informationen von Flüchtlingsorganisationen der Einzelfallprüfung der jeweiligen Ausländerbehörde. Eine Übergangsregelung für diese Gruppe von Drittstaatlern ist am 31. August ausgelaufen. Nach dem Ablauf der Frist können sich die Betroffenen noch 90 Tage legal in Deutschland aufhalten und sich um einen Aufenthaltstitel bemühen.
Insgesamt legen die Aussagen Betroffener nahe, dass zumindest manche nicht-ukrainische People of Colour auf ihrer Flucht diskriminiert wurden. Es gibt jedoch keine Belege für eine systematische Diskriminierung. Allerdings werden sie, etwa in Deutschland, oft anders als ukrainische Geflüchtete behandelt, wenn sie bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllen.
Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit InfoMigrants.
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