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PolitikEuropa

"Prigoschin will König des Donbass werden"

Mikhail Bushuev
22. Februar 2023

In Frankreich erscheint ein neues Buch des Wagner-Veteranen Marat Gabidullin. Im DW-Interview berichtet er über seinen ehemaligen Chef und sagt, warum es falsch ist, Prigoschins Truppe als "Privatarmee" zu bezeichnen.

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Russland Leiter der Wagner-Gruppe Jewgeni Prigoschin
Jewgeni Prigoschin, Chef der "Gruppe Wagner", auf einem Friedhof außerhalb von St. PetersburgBild: Uncredited/AP/dpa/picture alliance

Angefangen als eine kleine Gruppe von Söldnern hat sich die russische Sicherheits- und Militärorganisation namens "Gruppe Wagner" im Laufe der Zeit erheblich verändert. Heute ist sie faktisch eine Armee mit Flugzeugen, Artillerie und einem eigenen Bürozentrum in St. Petersburg. Der erste, der die vom russischen Unternehmer Jewgeni Prigoschin geleitete Organisation von innen beschrieb, ist der ehemalige Söldner Marat Gabidullin, der heute in Frankreich lebt. Sein Anfang 2022 in Russland erschienenes Buch mit dem englischen Titel "In the Same River Twice" sorgte international für Aufsehen. Am 23. Februar erscheint im französischen Verlag Michel Lafon ein neues Buch von ihm mit dem Titel "La révolte". Die DW hat mit dem Autor gesprochen.

DW: Herr Gabidullin, als Sie Ihr erstes Buch über die "Gruppe Wagner" veröffentlichten, leugnete Jewgeni Prigoschin noch, etwas mit dieser Organisation zu tun zu haben. Heute gibt er zu, nicht nur hinter ihr zu stehen, sondern auch hinter einer "Trollfabrik". Er ist einer der Hauptakteure in Russlands Krieg gegen die Ukraine. Sie waren eine Zeit lang sein Berater. Was ist er für ein Mensch?

Marat Gabidullin: Berater war ich nur bedingt - zu der taktischen Situation. Damals war ich [im Syrienkrieg, Anm. d. Red.] und zeichnete anhand der Berichte des Stabschefs der Söldnertruppe in Syrien die taktische Lage auf der Karte ein, studierte die Details und musste beim Treffen mit meinem Chef klärende Fragen beantworten.

Marat Gabidullin, Ex-Söldner der sogenannten "Gruppe Wagner" in einem Buchladen
Marat Gabidullin, Ex-Söldner der sogenannten "Gruppe Wagner"Bild: privat

Welchen Eindruck hatten Sie von Ihrem Chef?

Prigoschin ist ein harter Anführer, der manchmal die Grenze zu Brutalität und Grobheit überschreitet. Er denkt in großen Maßstäben und beschränkt sich mit seinem Unternehmen nicht nur auf einen Tätigkeitsbereich.

Wie sind Sie zur "Gruppe Wagner" gekommen? Was haben Sie gemacht, bevor Sie Berater wurden?

Ich bin Absolvent der Militärschule der Luftlandetruppen in Rjasan. Nach dem Abschluss war ich fünf Jahre auf verschiedenen Offiziersposten tätig. Ich habe Dienst geleistet als stellvertretender Kommandant der Aufklärungskompanie eines Fallschirmregiments. Aufgrund eines bürokratischen Durcheinanders wurde ich entlassen, war einige Zeit Zivilist, versuchte irgendwie einen Job zu finden. Das war in den 1990er Jahren. Damals kam ich in Kontakt mit Kriminellen. Ich habe einen Mafiaboss erschossen, wurde verurteilt und habe drei Jahre abgesessen. Als ich frei kam, versuchte ich, wieder einen zivilen Job zu finden.

Was hätte ich tun sollen? Es gibt einen Klischeewerdegang: Leibwächter, dann Leiter einer Leibwache, dann Leiter des Sicherheitsdienstes einer kommerziellen Struktur und dann weiter nichts mehr. Aber all diese Jobs passten mir nicht besonders. 2015 war ich in einer tiefen Depression, in einer Sackgasse. Da rief mich ein Freund an und sagte, es gebe eine paramilitärische Organisation in Russland, in der ich zu meinem früheren Beruf zurückfinden und versuchen könnte, neu anzufangen. Dies spiegelt sich im Titel meines Buches "In the Same River Twice" wider. Ich muss sagen, dass ich mich dort wiedergefunden habe.

Ich habe als einfacher Kämpfer einer Einheit angefangen. Damals war das noch einfach eine "Wagner-Brigade". Bei meinem ersten Einsatz in Syrien war ich Gruppenkommandeur, und nach diesem Einsatz wurde ich zum Kommandeur einer Aufklärungskompanie ernannt. 2016 wurde ich beim Angriff auf Palmyra schwer verletzt. Erst in Russland im Militärkrankenhaus wachte ich aus dem Koma auf. Da ich sehr schwer verwundet war, konnte ich die Aufgaben eines Kampfkommandeurs nicht erfüllen. Daher wurde ich im zentralen Büro eingesetzt.

Haben Sie noch Kontakt zu jemandem innerhalb der "Gruppe Wagner"? Wissen Sie, was dort heute vor sich geht?

Ich habe in letzter Zeit große Probleme, mit ihnen zu kommunizieren. Wir sind sehr weit voneinander entfernt...

In welchem ​​Sinne? Ideologisch?

Ja. Psychisch und auch mental.

Welche Ordnung herrscht innerhalb der "Gruppe Wagner"?

Die Gruppe folgt den Regeln, die die Führung setzt, und die besteht aus ehemaligen Militärs. Wenn man russischen Militärs Macht gibt, dann schaffen sie gleich alle Begriffe wie Verfassung und Gesetze als liberalen Unsinn ab und beginnen, ihre eigenen Gesetze aufzustellen, bis zu dem Moment, in dem sie selbst unter diese Unterdrückungsmaschine geraten. Die Art und Weise der Aufrechterhaltung der Disziplin und der Grad ihrer Brutalität hängen von äußeren Faktoren ab.

Syrien ist eine Sache. Niemand, denke ich, zweifelt daran, dass es notwendig war, gegen den IS (Islamischer Staat, Anm. d. Red.) zu kämpfen. Wir hatten dort keine Dienstverweigerer. Ich denke, dass es innerhalb der Organisation selbst jetzt noch die Regel gibt, dass Zivilisten nicht getötet und nicht ausgeraubt werden dürfen. Die Bestrafung dafür ist immer sehr hart, auch wenn das seltsam erscheinen mag. Zum Beispiel leben Wagner-Einheiten in Mali derzeit unter schwierigen Bedingungen, praktisch auf freiem Feld, in einem Zelt und in einer Atmosphäre der Isolation und in einem feindlichen Umfeld. Trotzdem ist es ihnen verboten, Zivilisten etwas wegzunehmen, damit es keine Beschwerden gibt.

Sie widersprechen Berichten zum Beispiel aus der Zentralafrikanischen Republik und Mali, wo UN-Experten der "Gruppe Wagner" Gewalt und Plünderungen gegen Zivilisten vorwerfen.

Ich habe mit mehreren Journalisten gesprochen. Einer von ihnen sagte, dass Zivilisten gegenüber den russischen Söldnern recht freundlich eingestellt seien. Warum? Weil sie vor Rebellen schützen. Wenn Sie meinen, dass Rebellen hohe geistige Werten haben, dann irren Sie sich zutiefst. Dass sich die Söldner gegenüber Zivilisten, wie Sie sagen, grausam verhalten, das glaube ich nicht. In Bezug auf ihren Gegner, ja. Es gibt kontinuierliche Verstöße gegen die Genfer Konvention. Söldner sind es gewohnt, mit allen verfügbaren Mitteln ihren Feind zu besiegen.

Marat Gabidullin während seines Einsatzes in Syrien
Marat Gabidullin während seines Einsatzes in SyrienBild: Marat Gabidullin/Econ Verlag/dpa/picture alliance

Aber in der Ukraine ist die Situation anders. Ideologische, propagandistische Klischees funktionieren nur bis zu dem Moment, in dem sich eine Person in einem Kampfgebiet wiederfindet. Hier kommt es zu grausamen Bestrafungsmethoden. Mehrere Quellen haben bereits bestätigt, dass außergerichtliche Hinrichtungen stattfinden. Ich sehe keinen Grund, diesen Quellen nicht zu vertrauen. Aber gleichzeitig verbiete ich es mir noch, mir selbst zu sagen: Ja, so ist es wirklich.

Können Sie etwas zu den Zahlen des britischen Geheimdienstes sagen, wonach die "Gruppe Wagner" jetzt 50.000 Mann hat?

Das ist eine absolut unrealistische Zahl. Das kann nicht sein. Wenn wir darüber sprechen, wie viele Menschen, einschließlich Gefangene, durch die Büros gegangen sind, dann vielleicht. Dies bedeutet aber nicht, dass es aktuell 50.000 sind. Sie können sie nicht in dem schmalen Abschnitt der Front unterbringen, in dem sie in der Ukraine operieren. 50.000 wäre doch ein Armeekorps. An allen anderen Einsatzorten der Gruppe - auf dem afrikanischen Kontinent und in Syrien - können maximal zwei- bis dreitausend Mann aufgenommen werden.

Hat die "Gruppe Wagner" eigene Einnahmequellen? Wie sieht es beim Geld aus?

Es sieht gut aus, solange es beim Staatshaushalt gut aussieht. Diese Organisation war noch nie privat. Die Bezeichnung "Privates Militärunternehmen" ist der Fantasie von Journalisten entsprungen. Sie kamen einst auf die Idee, die Bezeichnung des privaten Militärunternehmens mit dem Decknamen des obersten Kommandeurs der Organisation Dmitrij Utkin-"Wagner" zu kombinieren. Es gibt keine privaten Investitionen. Die Gruppe agiert auf Kosten des Staatshaushalts, zu Lasten der Steuerzahler.

Ist Dmitrij Utkin weiterhin oberster Kommandeur der "Gruppe Wagner"?

Ja, natürlich. Utkin ist die rechte Hand von Prigoschin, sein Weggefährte. Offenbar gab es eine Umverteilung der Lasten. Utkin kontrolliert die Aktivitäten der Gruppe in Afrika und Syrien, und Prigoschin selbst direkt im Donbass. Sein wirkliches Ziel im Donbass ist, den ganzen Industriekomplex zu erobern. Er will König des Donbass werden, nicht mehr und nicht weniger. Jetzt hat er dafür günstige Bedingungen, keine Konkurrenz.

Wie ist das Verhältnis zwischen der "Gruppe Wagner" und dem russischen Verteidigungsministerium?

Eigentlich kann man die "Gruppe Wagner" als Teil der Streitkräfte mit besonderen Befugnissen bezeichnen. Jetzt ist sie praktisch zu einer parallelen Machtstruktur geworden, die vom Gesetz nicht vorgesehen ist, aber sehr stark vom Verteidigungsministerium abhängt. Von Zeit zu Zeit kam es zu Reibungen.

Sie sind zwei Antipoden - Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Prigoschin. Sie sind Vertreter völlig unterschiedlicher, einander feindlich gesinnter Welten. Umso mehr, dass Prigoschin eine sehr intensive Lebensphase mit aktiver politischer Aktivität durchläuft, die nichts anderes als ein Kampf ums Überleben ist. Das ist seine Art zu überleben. Er hat bereits so viele Feinde in den Strafverfolgungsbehörden, dass es für ihn einfach überlebenswichtig ist, eine Art politischen Status zu erlangen.

Verteidigungsminister Sergej Schoigu
Verteidigungsminister Sergej SchoiguBild: Russian Defense Ministry/dpa/picture alliance

Laut westlichen Geheimdiensten kostet die Organisation zurzeit jeden Monat etwa 100 Millionen Dollar. Stimmt das?

Angesichts der Gesamtkosten, unter Berücksichtigung der Intensität der Kämpfe an der ukrainischen Front, ist dies ziemlich wahrscheinlich.

Hat sich der Sold irgendwie verändert?

Ein gewöhnlicher Kämpfer erhielt im Falle der Teilnahme an Kampfhandlungen 8000 Rubel (ca. 100 Euro) pro Tag. Er kann also 240.000 Rubel (ca. 3000 Euro) pro Monat bekommen. Plus Boni, die regelmäßig zugeteilt wurden. Hier hängt alles von der Bedeutung und Dauer des Kampfeinsatzes ab. Zum Beispiel im Jahr 2016, nach der Eroberung von Palmyra, was ein sehr bedeutendes Ereignis war, waren die Boni sehr hoch. Ein einfacher Soldat konnte 700.000 Rubel (ca. 8800 Euro) erhalten, und ein Kompaniechef, es gab damals noch Kompanien, bis zu zwei Millionen Rubel (ca. 25.000 Euro).

Wie sind die Strukturen der "Gruppe Wagner"?

Nach 2016 wurden die Kompanien in Gruppen umgewandelt. Dies sind eine Art taktische Bataillonsgruppen aus 250 bis 300 Mann. Die Infanterieeinheiten bestehen hauptsächlich aus Söldnern. Schematisch kann man sich die "Gruppe Wagner" so vorstellen: eine Kampfgruppe, ein Basislager mit Infrastruktur und einem Sicherheitsdienst. Dies ist eine Abteilung mit besonderen Befugnissen, die direkt der Zentrale unterstellt ist.

Sie selbst haben die "Gruppe Wagner" 2019 verlassen. Wann sind Sie nach Frankreich gekommen?

Letztes Jahr, im März 2022.

Als Flüchtling?

Nein, ich habe ein Visum bekommen. Man hat mir dabei geholfen und ich habe das Territorium Russlands auf legalem Weg verlassen.

Wie bewerten Sie, dass die USA die "Gruppe Wagner" als internationale kriminelle Organisation eingestuft haben?

Aufgrund der Tatsache, dass die "Gruppe Wagner" aktiv an den Kampfhandlungen in der Ukraine beteiligt ist, ist sie zweifellos an einem riesigen Kriegsverbrechen beteiligt. Das ist eine Intervention, das ist selbst einem Schulkind klar.

Sie waren auch in der Ukraine. Aber Sie sagen, dass sie dort nicht gekämpft haben.

Das war im Jahr 2015. Zum damaligen Zeitpunkt waren die Kampfhandlungen bereits eingestellt. Als wir dort ankamen, hatte ich den Eindruck, dass wir die Aufgabe hatten, dieses Feuer wieder zu entfachen und die Streitkräfte der Ukraine zu provozieren, die Kämpfe fortzusetzen. Wir waren sehr aktiv, aber ich war in einer Einheit, deren Kommandeur aufgrund seiner absoluten Voraussicht, List und Feigheit alles getan hat, um sicherzustellen, dass wir uns nicht an irgendwelchen Einsätzen beteiligen mussten. Ja, er ist ein Schurke, ein Schuft, aber ich bin ihm irgendwie dankbar, dass ich mir nicht die Hände schmutzig machen musste. Mein Gewissen ist rein geblieben. Damals kam ich zum Schluss, dass die russische Propaganda schamlos lügt und dass die Minsker Vereinbarungen gerade von der sogenannten "Volksrepublik Luhansk" ständig verletzt wurden.

Das Gespräch führte Mikhail Bushuev