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USA und Sklaverei: Debatte um "1619 Project"

Stuart Braun
27. Januar 2023

Die Essays von Nikole Hannah-Jones gewannen den Pulitzer-Preis. Oprah Winfrey produzierte daraus die Doku-Serie "1619 Project". Ihr Ziel: US-Geschichte neu erzählen mit dem Fokus auf die Auswirkungen der Sklaverei.

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Szene aus dem Film "1619 Project" zeigt einen Mann, der eine US-Flagge um die Schultern trägt.
"1619 Project" sorgt für einen Machtkampf um die US-Geschichte Bild: Hulu

"Die ersten versklavten Afrikaner wurden vor über 400 Jahren hierher gebracht. Seitdem ist kein Aspekt der amerikanischen Geschichte vom Erbe der Sklaverei unberührt geblieben", sagt die Journalistin Nikole Hannah-Jones im Intro der Doku-Serie "The 1619 Project".

Dem Mehrteiler liegen Hannah-Jones gleichnamige Essays zugrunde, die zuerst 2019 im Magazin der New York Times erschienen, und mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurden. Die Serie, die am Donnerstag (26.1.2023) auf der amerikanischen Streaming-Plattform Hulu erschienen ist, wurde von Oprah Winfrey produziert.

Ein Foto zeigt die US-amerikanische Journalistin Nikole Hannah-Jones
Kämpft für ein neues Geschichtsbewusstsein: US-Journalistin Nikole Hannah-JonesBild: Taylor Jewell/Invision/picture alliance

Sie ergänzt die journalistische Langzeitbetrachtung mit Eindrücken heutigen afroamerikanischen Lebens in den USA, etwa dem Kampf schwarzer Arbeiter um gewerkschaftliche Vertretung bei den neuesten Entlassungswellen von Amazon von Alabama bis New York oder das Ringen schwarzer Mütter gegen eine rassistische Behandlung beim Zugang zu angemessener medizinischer Behandlung.

Wie in den zugrundeliegenden Essays thematisiert die Dokumentation auch Hannah-Jones eigene afroamerikanische Familiengeschichte. Ihr Vater, Nachfahre von Sklaven und im Apartheid-Staat Mississippi aufgewachsen, diente in den 1960er-Jahren in der US-Army in der Hoffnung, dass "sein Land ihn endlich auch als Amerikaner behandle". Doch das geschah nicht, sondern er verbrachte den Rest seines Lebens in prekären Jobs. Und trotzdem hisste er als stolzer Patriot stets die amerikanische Flagge in seinem Garten. 

Doch die junge Hannah-Jones lehnte eine solche Identifikation mit den USA ab. "Ich konnte nicht verstehen, wie er so stolz seinen Patriotismus zur Schau stellt für ein Land, das ihn so schlecht behandelt", sagt sie in der Serie. Doch später sieht sie ihren Vater als Personifikation des Amerikanischen Traums. "Unser Blut, Schweiß und Tränen stecken in dieser Erde", fährt sie fort, "mein Vater wusste, dass niemand mehr Anspruch auf diese Flagge hat als wir, denn wir haben am härtesten dafür gekämpft."

Talkshow-Moderatorin Oprah Winfrey lächelt und blickt rechts aus dem Bild heraus.
Oprah Winfrey hat die Doku-Serie "1619 Projekt" produziertBild: VALERIE MACON/AFP

Konservativer Backlash unter Donald Trump

Während Hannah-Jones für ihre Arbeit über die 400-jährige Geschichte der Sklaverei in den USA und ihre sozioökonomischen Folgen gefeiert wurde, wurde ihre Behauptung, dass die Sklaverei eine fundamentale Rolle bei der amerikanischen Staatsgründung gespielt hat, in Frage gestellt - sowohl im linken als auch im rechten politischen Spektrum.

Linke halten die These zwar grundsätzlich für richtig, sehen aber einige Schlussfolgerungen daraus kritisch, besonders die Rolle der Sklaverei in der Amerikanischen Revolution. Eine Kritik, die Hannah-Jones akzeptieren kann.

Doch die Rechtspopulisten, mittendrin der damalige Präsident Donald Trump, erklärten dieser Neuinterpretation der amerikanischen Geschichte den Krieg. Die Jahreszahl "1619" bezieht sich auf die Ankunft einer Gruppe von rund zwanzig gefangenen und verschleppten Afrikanern in der englischen Kolonie Virginia. Dieses Ereignis bildet für Hannah-Jones den neuen Startpunkt amerikanischer Geschichtsschreibung, was allerdings damit die bisherige Version, die mit der Unabhängigkeitserklärung von 1776 oder der Ankunft der englischen Pilgerväter 1620 beginnt, infrage stellt. Das "1619 Project" sei im Zusammenhang mit einem weiteren Lieblingsfeind der Rechtskonservativen zu sehen: der Critical Race Theory. Diese ist eigentlich eine Sammlung von Theorieansätzen, die "Race" (auch im Deutsche so verwendet, Anmerkung der Redaktion) als soziales Konstrukt sichtbar machen und strukturellen Rassismus identifizieren - und bekämpfen - will.

"Das '1619 Project' und der Kreuzzug gegen amerikanische Geschichte ist toxische Propaganda", sagte Trump 2019 bei einer politischen Kundgebung. Dann gab er bekannt, er werde kalifornischen Schulen die Gelder kürzen, sollten sie "The 1619 Project" in ihren Curriculum aufnehmen. Zuvor hatte die New York Times gemeldet, sie plane "1619"-Materialien als Lehrmaterial aufzubereiten und zur Verfügung zu stellen.

Mann hält amerikanische Flagge hoch an Demonstration im US-Bundesstaat Kentucky 2021
Demonstration in Kentucky 2021, auch gegen Critical Race Theory im SchulunterrichtBild: Jon Cherry/Getty Images

Als Antwort auf Hannah-Jones' These, dass der Kampf um die Unabhängigkeit 1776 auch gekämpft wurde, um das System der Sklaverei aufrecht zu erhalten - im Gegensatz zu der traditionellen Erzählung des Kampfes um Unabhängigkeit und Freiheit - erschuf Trump das mittlerweile gelöschte "1776 Project". Damit wollte er der "patriotischen Bildung" wieder zu Geltung verhelfen. Für Hannah-Jones handelt es sich jedoch rein um politische Meinungsmache. "Race ist der älteste Zankapfel in Amerika", sagte sie in einem Interview mit NPR Radio.

War die Frage der Sklaverei zentral für die Amerikanische Revolution?

Kritik gab es auch von linken Historikern und aus der politischen Mitte: Die Sichtweise, dass die Amerikanische Revolution hauptsächlich ausgefochten wurde, um die Sklaverei aufrecht zu erhalten, während die englischen Kolonisten die Sklaverei abschaffen wollten, sei fragwürdig, hieß es.

"Das '1619 Project' ist eine Polemik, und basiert nicht auf 'faktischer Geschichte'", befand Pascal Roberts, ein politischer Kommentator aus dem Bundesstaat Kalifornien mit Schwerpunkt Black Politics in seinem Podcast "This is Revolution". Er verweist auf den Genozid an den amerikanischen Ureinwohnern, den Mangel an Frauenrechten und eingeschränktem Zugang männlicher weißer Wähler nach der Revolution von 1776, und wirft dem Projekt mangelnde Analyse von Klasse als Kategorie von Unterdrückung im Kapitalismus vor.

Schon zuvor hatten fünf Historiker der New York Times einen offenen Brief zum "1619 Project" geschrieben, in dem sie es zum einen lobten, "im Bestreben die anhaltende zentrale Bedeutung von Sklaverei und Rassismus in unserer Geschichte zu thematisieren", doch auch "faktische Fehler und den Prozess hinter geschlossenen Türen" kritisierten. Vor allem sei die Behauptung des Projekts, dass die 13 Kolonien unter britischer Herrschaft den Unabhängigkeitskrieg führten, um die Sklaverei beizubehalten, "nicht richtig". Sie forderten deshalb eine offizielle Korrektur.

Trump-Unterstützer und Black Lives Matter-Demonstrant schreien sich an,  U2020 in Washington, vor US-Wahl
Trump-Unterstützer versus Black-Lives-Matter-Demonstrant 2020 in WashingtonBild: Olivier Douliery/AFP/Getty Images

Der Chefredakteur des New York Times Magazine, Jake Silverstein, wies die Forderung zurück, mit der Begründung, dass "historisches Verständnis nicht in Stein gemeißelt" sei. Kurz danach bekannte die afroamerikanische Historikerin Leslie M. Harris, die als Beraterin am Projekt mitgewirkt hatte, dass sie "mit Nachdruck dagegen argumentiert hatte", dass die Revolution in erster Linie zum Ziel hatte, die Sklaverei beizubehalten.

Obwohl Hannah-Jones an ihrer Behauptung festhält, hält Harris das "1619 Project" weiterhin für ein "unbedingt notwendiges Korrektiv", das Amerikas Ursprünge neu beleuchtet, wie sie im Magazin "Politico" schreibt. Allerdings fürchte sie, dass Hannah-Jones und die Redakteure durch ihr Abwiegeln den Kritikern die Türe geöffnet hat, "das gesamte Projekt zu diskreditieren".

Hulu-Serie inmitten eines amerikanischen Kulturkampfes

Während radikale Republikaner ihren Kampf gegen Critical Race Theory und die Idee, dass systematischer Rassismus von Beginn an die amerikanische Gesellschaft geformt habe, verstärken, hat der Gouverneur von Florida, Ron DeSantis, letzte Woche Ernst gemacht und Kurse mit afroamerikanischer Geschichte an den Schulen verboten.

Das folgt auf vorhergehende Versuche, gewisse Bücher aus Schulcurricula verschwinden zu lassen, etwa den Roman "Beloved" (auf deutsch "Menschenkind") von der Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison, der die Auswirkungen der Sklaverei auf eine afroamerikanische Familie nach dem amerikanischen Bürgerkrieg beschreibt.

Trotz laufender Kritiken an ihren historischen Methoden aus allen politischen Lagern: vor dem Hintergrund solch unverhohlener Zensurversuche ist Nikole Hannah-Jones entschlossen, ihr Werk weiter zu führen. "Man kann vielleicht verbieten, was jemand in einem Klassenzimmer lernt, aber man kann nicht verhindern, dass die Menschen eine Doku-Serie schauen, und diese Informationen bekommen", sagte Hannah-Jones kämpferisch. 

Übersetzt aus dem Englischen von Julia Hitz

DW Autor l Kommentatorenfoto Stuart Braun
Stuart Braun Australischer DW-Journalist und Buchautor.