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Das schöne Spiel ist (fast) tot

12. Juli 2018

Die Fußball-WM in Russland zeigt: Erfolgreich ist, wer zu verteidigen und zu kontern versteht - und Standards beherrscht. Attraktiv ist das nicht unbedingt, doch ein wenig Hoffnung für das schöne Spiel gibt es noch.

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Fußball WM 2018 Kroatien vs England Tor, torjubel
Bild: Reuters/G. Dukor

Der gemeine Fußballfan kann sich voll und ganz dem Verzehr der obligatorischen Chipstüte widmen. Seine Zunge braucht er jedenfalls kaum noch, um damit zu schnalzen. Denn das schöne Spiel - oder wie der Brasilianer so leidenschaftlich sagt, "O Jogo Bonito" - ist so gut wie tot. Technische Kabinettstückchen musste man bei der Weltmeisterschaft in Russland mit der Lupe suchen. Kylian Mbappés Zuckerpass mit der Hacke im Halbfinale der Franzosen gegen Belgien bildete eine Ausnahme. Kein Wunder, dass die Szene als Dauerschleife in den sozialen Netzwerken Erfolge feiert, obwohl sie nicht zu einem Treffer führte.

Die Null halten

Andere geniale Techniker, die vor dem Tor für besondere Momente sorgen könnten - wie die fünfmaligen Weltfußballer Lionel Messi aus Argentinien und Cristiano Ronaldo aus Portugal oder der Brasilianer Neymar - verabschiedeten sich mit ihren Teams früher als erwartet aus dem Turnier. Fast schon symptomatisch, denn die Abwehrreihen dominierten, nicht die Offensivkräfte.

"Man konnte beobachten, dass die Teams, auch die so genannten kleineren, trainiert haben, in der Defensive gut zu stehen und die Räume für die gegnerische Mannschaft zu schließen", sagt Professor Daniel Memmert, Leiter des Instituts für Trainingswissenschaft und Sportinformatik an der Deutschen Sporthochschule in Köln. "Bis auf vielleicht ein oder zwei WM-Spiele galt die Devise: Hinten die Null halten."

Wenig Kreativität

Daniel Memmert Kognitions- und Sportspielforschung Sporthochschule Köln
Memmert: "Waffen werden schnell stumpf"Bild: Kenny Beele

Die Folge waren viele Spiele, an denen allenfalls Taktikliebhaber ihre Freude hatten und die hohe Erwartungen in Sachen Spielkunst nicht erfüllen konnten. Selbst die beiden Halbfinals machten da keine Ausnahme. "Meistens fehlte die Kreativität, um die Abwehrriegel zu knacken. Wenn ich immer wieder die gleichen Mittel einsetze, werden die Waffen schnell stumpf", analysiert Memmert. "Ein Beleg dafür ist, dass bei dieser WM so viele Tore nach Standards fielen und nicht aus dem Spiel heraus."

Tiki-Taka hat ausgedient

40 Prozent aller WM-Treffer resultierten aus ruhenden Bällen, also Freistößen, Eckbällen, Einwürfen oder Elfmetern. Bei der WM 2014 in Brasilien waren es nur 26 Prozent. Halbfinalist England etwa erzielte neun seiner zwölf WM-Tore nach Standards. Erfolgreich waren zudem jene Teams, die aus einer sicheren Abwehr heraus blitzschnelle Angriffe starteten. Der gute alte Konter als Erfolgsrezept, heute nennt man das Umschaltspiel. Tiki-Taka, jenes Kurzpassspiel, das die Spanier perfektioniert hatten und das über Jahre als Nonplusultra gefeiert worden war, hat ausgedient. Die drei Mannschaften mit der höchsten Ballbesitzquote scheiterten früh: Deutschland in der Vorrunde, Spanien und Argentinien im Achtelfinale.

Variabler spielen

Die WM in Russland hat deutlich gezeigt: Wer erfolgreich sein will, muss zunächst einmal hinten sicher stehen. Das beherrschen jedoch inzwischen viele Teams. Um sich von der Konkurrenz abzuheben, ist mehr nötig. "Immer wichtiger werden Rhythmuswechsel", sagt Professor Memmert von der Sporthochschule Köln. "Die Mannschaften müssen trainieren, variabel zu spielen und viele Ideen in ihr Spiel zu integrieren, um damit für den Gegner schwerer ausrechenbar zu sein. In Sachen Kreativität gibt es Nachholbedarf."

Und da kommen dann doch möglicherweise wieder jene Fußballkünstler ins Spiel, die über herausragende technische Fähigkeiten verfügen - und uns die Chipstüte beiseitelegen lassen, um mit der Zunge zu schnalzen.

DW Kommentarbild Stefan Nestler
Stefan Nestler Redakteur und Reporter