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Corona war schon im September 2019 verbreitet

20. November 2020

Eine neue Studie legt nahe, dass SARS-CoV-2 schon seit September 2019 kursiert - und zwar in Italien. Müssen wir nun alles Wissen über den Ursprung und die Verbreitung des Coronavirus über den Haufen werfen?

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Italien | Coronavirus |  Umarmungsraum
Bild: Piero Cruciati/AFP

"Das Coronavirus ist in Italien früher aufgetaucht, als bisher angenommen", titelt die Nachrichtenagentur Reuters und beruft sich auf die Ergebnisse einer kürzlich veröffentlichten italienischen Studie

Die Probanden waren eigentlich Teilnehmer eines Lungenkrebs-Screenings. Weil aber gerade Pandemie war und es zu deren Ursprung und Verlauf mehr Fragen als Antworten gab, unterzogen die Forscher die zwischen September 2019 und Februar 2020 gesammelten Blutproben einer genaueren Untersuchung.

Was sie fanden, waren Antikörper gegen SARS-CoV-2. Und zwar im Blut italienischer Probanden gesammelt im September 2019. 

Genetiker nicht überrascht

Was die Krebsforscher ebenso erstaunen mag wie die Journalisten, die über die Studienergebnisse stolpern, ist für den Genetiker Peter Forster keine besonders große Überraschung.

Im Gegenteil: Diese neueste Erkenntnis deckt sich mit den Ergebnissen einer phylogenetischen Analyse des Virus, die Forster und seine Kollegen bereits Anfang April veröffentlicht haben.

"Wir haben im April anhand der damals vorliegenden Daten und der Mutationsrate des Virus geschätzt, dass es zwischen Mitte September und Dezember 2019 zu einer erfolgreichen Ausbreitung beim Menschen gekommen sein muss", sagt Forster.

Corona bei Vorerkrankungen

Die Analyse des Wissenschaftlers im Frühjahr beruhte auf den ersten zur Verfügung stehenden Virusgenom-Daten vom Dezember 2019 bis März 2020. Forster und seine Kollegen erstellten einen Corona-Stammbaum und identifizierten drei verschiedene Zweige des Virus - genannt A, B und C.

Sie wollten wissen, welche SARS-CoV-2-Variante die älteste ist, um so dem geographischen Geburtsort des Virus auf die Schliche kommen zu können. "Damals waren alle Typen, A,B und C, in China vertreten", sagt Forster.

Der A-Typ habe bereits früh in Patienten aus Nordamerika und Australien nachgewiesen werden können. Der C-Typ wiederum sei in Singapur, Japan und Taiwan gefunden worden. "Unter den Infizierten war auch ein Italiener dabei, offensichtlich ein Tourist", sagt Forster.

Forscher fahnden nach Viren

"Der Großteil der Proben bestand aber aus der B-Variante, die besonders häufig in Wuhan in China vertreten war", so der Genetiker. Jener Ort, der seither als Ursprung allen Pandemie-Übels gehandelt wird.

Da die Fledermaus als wahrscheinlichster Überträger des SARS-Erregers gilt, verglichen die Wissenschaftler nun die drei identifizierten Varianten mit dem im Tier vorkommenden Coronavirus. Das Resultat überraschte auch Peter Forster: "Es zeigte sich ganz deutlich, dass A der älteste Typ ist", sagt er. Nicht B, wie er vor allem in Wuhan gefunden wurde. "Ich bezweifle, dass Wuhan wirklich der Ausbreitungsursprung ist." 

Ursprung im südlichen China?

Die Daten sprächen vielmehr für einen anderen Ort, an dem alles seinen Anfang nahm - die südchinesische Provinz Guandong zum Beispiel. "Die Hälfte aller damaligen Proben waren A-Typen, zweitens gibt es dort Fledermaus-Populationen und drittens gab es dort früher schon Coronavirenausbrüche", sagt Forster.

Allerdings, sagt der Forscher, müsse berücksichtigt werden, dass die Anzahl der Proben, die den Wissenschaftlern für ihre Analyse im Frühjahr zur Verfügung standen, sehr klein war. Es gab einfach noch nicht so viele Infizierte.

Forsters Analyse ist nicht unumstritten. Auf der Homepage des Wissenschaftsjournals "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS) äußern sich andere Wissenschaftler kritisch über die Methodik der Studie und die Interpretation der Ergebnisse. Auch Forsters Antworten sind hier nachzulesen. Sein Paper ist bereits mehr als 300 Mal in der wissenschaftlichen Literatur zitiert worden.

Die Studie, die das erste SARS-CoV-2-Vorkommen auf den September datiert, ist nicht der einzige Hinweis darauf, dass das Virus bereits früher als gedacht in Europa gelandet war.

Eine im Juli veröffentlichte Untersuchung von Abwässern in Norditalien wies ebenfalls darauf hin, dass das Virus schon Ende des letzten Jahres im Land zirkulierte. 

Trotzdem wurde der erste Fall eines infizierten Italieners, der nachweislich keinen Urlaub in China gemacht hatte, erst im Februar dokumentiert. Ab da ging alles ganz schnell und Italien erlebte einen der schwersten Pandemie-Verläufe in Europa mit mehr als 1,2 Millionen Infizierten und knapp 46.500 Toten. 

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D614G erobert die Welt

Peter Forster erklärt diesen plötzlichen Flächenbrand an Infektionen mit der Mutation des Virus, die einen wesentlichen infektiöseren Typ hervorbrachte:B-D614G, eine Mutante des B-Typs.

Diese Virus-Variante fiel auch einer Gruppe amerikanischer Forscher um die Biologin Bette Korber auf. Sie verglichen klinische Daten von Patienten, die sich mit der D614G-Variante infiziert hatten mit denen anderer SARS-CoV-2-Infizierter.

"Es zeigte sich ein entscheidender Unterschied bei den Patienten, die mit der neuen Mutante infiziert waren: ihre Viruslast in den Atemwegen war viel höher", erklärt Forster. "Diese Patienten waren viel infektiöser, also konnte sich das Virus schneller und besser verbreiten." Bald machte dieser erfolgreiche Subtyp 97 Prozent der Virus-Varianten aus. 

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Mutation im Sinne des Virus

SARS-CoV-2 in Variante des D614G-Typs kann sich eines weltweiten Siegeszugs rühmen. Mit bisher mehr als 55 Millionen Infizierten rund um den Globus hat es seine Verbreitung sichern können.

Der Genetiker Forster vermutet, dass die Gefahr einer tödlicheren Mutante tendenziell abnimmt. "Ist ein Virus erstmal innerhalb einer Population etabliert, gibt es Immunantworten, die die Gefahr des Erregers mildern."

Damit das Virus weiter existieren könne, sei es am sinnvollsten, es würde infektiöser, aber nicht gefährlicher. Bringt das Virus seinen Wirt um, hat es auch selbst nur wenig davon.

"Ein neues Virus ist aber erstmal so infektiös wie möglich, ohne Rücksicht auf Verluste", sagt Forster. In Ländern wie Italien ist das besonders schmerzlich zu spüren.