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Krise in der Automobilindustrie trifft Ukraine

Eugen Theise | (Adapt.:Markian Ostaptschuk)
13. Mai 2020

Die deutsche Automobilindustrie wird schrittweise wieder hochgefahren - und damit auch der Betrieb bei ihren Zulieferern in der Ukraine. Doch dort gefährdet der erzwungene Corona-Stillstand viele Arbeitsplätze.

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Mitarbeiterinnen des westukrainischen Werks des deutschen Autozulieferers Leoni
Mitarbeiterinnen des westukrainischen Werks des deutschen Autozulieferers LeoniBild: DW/Halyna Stadnyk

"Mir wurde mitgeteilt, dass ich in den nächsten Tagen wieder zur Arbeit gehen kann", sagt Tatiana hoffnungsvoll. Seit vielen Jahren arbeitet sie für den deutschen Kabel- und Bordnetz-Hersteller Leoni, der in der Westukraine zwei Werke betreibt. Anfang April wurde ihr Gehalt gekürzt. Laut ukrainischen Gesetzen müssen Arbeitgeber bei einem Produktionsstopp zwei Drittel des Lohns weiterzahlen. Bei Tatiana sind das umgerechnet knapp 200 Euro. "Ich arbeite als einzige in der Familie, und das Geld reicht nicht", sagt sie. Da sie anonym bleiben möchte, haben wir ihren Namen geändert.

Die Leoni AG beschäftigt in der Westukraine rund 7000 Mitarbeiter. Die beiden Werke standen anderthalb Monate still - wegen der COVID-19-Pandemie und dem daraus resultierenden Stillstand in den Automobilwerken in Deutschland und weiteren Ländern. Doch seit Anfang Mai läuft die Produktion wieder an, auch bei Leoni. Dort soll sie 70 Prozent des Umfangs vor der Quarantäne-Zeit erreichen. Prognosen wagt das ohnehin angeschlagene Unternehmen aber nicht. Klar ist nur, sollte es dieses Jahr in der Automobilindustrie einen starken Rückgang geben, wird es Leoni zufolge unmöglich sein, wieder das frühere Volumen zu erreichen. Für das erste Quartal vermeldete das in Nürnberg beheimatete Unternehmen am Mittwoch (13.05.) einen Verlust von 67 Millionen Euro und ein Umsatzminus von über zehn Prozent.   

Bestellungen von Volkswagen komplett storniert

Laut Leoni ist es noch zu früh, von einem möglichen Personalabbau zu reden. Andere in der Ukraine tätige Zulieferer von Automobilkomponenten sind da direkter. "Wir müssen inzwischen Entlassungslisten erstellen", sagt Oleksandr Schlamp von SE Bordnetze-Ukraine gegenüber der DW. Rund 2000 Arbeitsplätze seien gefährdet, teilte die ukrainische Tochter des deutsch-japanischen Unternehmens Sumitomo Electric Bordnetze schon im April auf Facebook mit.

Werk des deutsch-ukrainischen Automobilzulieferers SE Bordnetze Ukraine
SE Bordnetze-Ukraine hat Millionen für die Schutzmaßnahmen ausgegeben Bild: SEBN UA

"Nach Einstellung seiner Produktion hat unser Kunde - der Volkswagen-Konzern - die Bestellung komplett storniert. Es liegen noch keine neuen Bestellungen vor. Wir warten ab.", berichtet Schlamp. Derzeit ist sein Unternehmen zu etwa 15 Prozent ausgelastet und arbeitet alte Aufträge ab. Da VW die Produktion nur schrittweise wieder aufnimmt, werden Kabel aus der Ukraine derzeit offenbar noch nicht benötigt. Das Management von SE Bordnetze-Ukraine räumt ein, dass die Finanzreserven für die Zahlungen an die Mitarbeiter, die zu Hause sind, nur für einige Monate reichen. Eine weitere finanzielle Belastung sei für das Unternehmen die Anschaffung von Schutzmasken und die Umrüstung von Arbeitsplätzen, die an die Gegebenheiten der Corona-Pandemie angepasst werden müssen.

Keine erfreulichen Prognosen für die Autobranche

Der Verband der deutschen Automobilindustrie (VDA) rechnet bei einem optimistischen Szenario - sollte sich die Nachfrage erholen - dieses Jahr dennoch mit einem Rückgang der Automobilproduktion in Deutschland um rund 20 Prozent. Doch es könnte noch schlimmer kommen, denn nach Angaben des Verbandes ist die Bestellung von Neuwagen im April im Inland um 70 Prozent und aus dem Ausland um fast 50 Prozent eingebrochen.

In Deutschland bekommen die Hersteller in der gegenwärtigen Lage starke staatliche Unterstützung. Anstelle des Arbeitgebers zahlt die Bundesagentur für Arbeit bis zu 67 Prozent des Gehalts an alle Arbeitnehmer, die aufgrund der Reduzierung oder Einstellung der Produktion zu Hause bleiben müssen. Diesen Betrag stocken große Unternehmen meist um weitere zehn bis 20 Prozent des üblichen Einkommens auf. Volkswagen zahlt beispielsweise bei betroffenen Arbeitnehmern in Niedriglohngruppen so viel zu, dass sie auf 95 Prozent ihres Gehalts kommen. Um Unternehmen finanziell zu entlasten, hat sich die Bundesregierung für den Fall, dass sich die Krise hinzieht, verpflichtet, die staatlichen Leistungen nach drei Monaten auf 77 Prozent der Löhne und nach sechs Monaten auf 87 Prozent zu erhöhen.

VW fährt die Produktion wieder hoch, es bleibt aber unklar, ob das zu Bestellungen bei den ukrainischen Werken führt
VW fährt die Produktion wieder hoch, es bleibt aber unklar, ob das zu Bestellungen bei den ukrainischen Werken führtBild: picture-alliance/dpa/H. Schmidt

Droht ein Abbau von Arbeitsplätzen?

Da es in der Ukraine keine staatliche Hilfe gibt, können Zulieferbetriebe Arbeitsplätze nur dann retten, wenn sie die vom Gesetz vorgeschriebenen zwei Drittel des Gehalts zahlen können. Unbezahlter Urlaub geht grundsätzlich nur mit Zustimmung der Mitarbeiter selbst. Eine Ausnahme von dieser Regelung gilt während der Quarantänezeit für kleine und mittlere Unternehmen, nicht jedoch für große. Vielen von ihnen droht daher die Pleite, sollten die ukrainischen Gesetzgeber ihnen nicht erlauben, Mitarbeiter während der Krise in unbezahlten Urlaub zu schicken.

Alexander Markus von der Deutsch-Ukrainischen Industrie- und Handelskammer meint, deutsche Unternehmen würden ihren ukrainischen Töchtern keine Finanzmittel geben wollen oder können, um längerfristig die Personalkosten voll decken zu können. "Sie haben in Deutschland selbst kein Geld. Die wichtigste Aufgabe einer Filiale im Ausland besteht darin, kein Geld aus Deutschland zu binden. Wenn sie aus dem Ausland anfangen, um Geld aus Deutschland zu bitten, dann steht das Projekt sofort infrage", so Markus im Gespräch mit der DW. Er betont, die Firmen seien vor allem wegen der niedrigen Löhne in die Ukraine gekommen. Bei unvorhergesehenen Kosten würden sie sofort beginnen, eine günstigere Produktion in Ländern wie Marokko oder Tunesien durchzurechnen.

Wie die DW erfuhr, hat Markus bereits vor einem Monat in einem Brief an den ukrainischen Premierminister Denys Schmyhal auf den drohenden Verlust von Arbeitsplätzen bei den Zulieferern in der Ukraine hingewiesen. Passiert ist seitdem nichts. Nach Angaben der Deutsch-Ukrainischen Industrie- und Handelskammer sind in den Unternehmen, die in der Ukraine Automobilkomponenten für die deutsche Industrie herstellen, rund 35.000 Menschen beschäftigt.