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Corona-Ermächtigungsgesetz? Ein schräger Vergleich

18. November 2020

Einige Kritiker vergleichen das neue Corona-Gesetz mit dem "Ermächtigungsgesetz" von 1933. Das hatte den Weg in die Diktatur geebnet. Der Vergleich ist weit hergeholt. Und dennoch lohnt ein Blick in die Geschichte.

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Deutschland Anti-Corona Demo Berlin
Bild: Abdulhamid Hosbas/AA/picture alliance

Drinnen im Bundestag wurde hitzig debattiert, draußen am Brandenburger Tor versuchte die Polizei, mit Wasserwerfern die Gemüter zu kühlen. Dort demonstrierten am Mittwoch Tausende gegen das Infektionsschutzgesetz der Regierungsparteien CDU/CSU und SPD. Das Gesetz, das Bundestag und Bundesrat am Mittwoch verabschiedet haben, soll schnelles politisches Handeln bei sogenannten pandemischen Lagen ermöglichen. Also zum Beispiel in der Corona-Pandemie.

Auch nachdem die Berliner Polizei am Mittag die Kundgebungen wegen Verletzung der Maskenpflicht hatte auflösen lassen, versammelten sich immer wieder Menschen. Mit Regengüssen aus Wasserwerfern versuchte die Polizei, die Demonstranten zu verscheuchen.

Gauland: "Gesundheitsdiktatur"

"Dies ist ein sehr ungewöhnlicher Tag", sagt Helge Lindh von der SPD. Schon am Morgen hatte Lindh Demonstranten im Regierungsviertel ausweichen müssen. Einige hatten die Absicht bekundet, den Zugang zum Parlament zu blockieren. Lindh war schließlich über einen Tunnel aus einem Nebengebäude in das Reichstagsgebäude gelangt.

"Natürlich muss es die Möglichkeit geben, zu demonstrieren und zu kritisieren", so Lindh im Gespräch mit der DW. "Aber für mich ist die Grenze der demokratischen Toleranz erreicht, wenn das Infektionsschutzgesetz gleichgesetzt wird mit dem Anfang einer Diktatur, mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933."

Deutschland Bundestag Änderung des Infektionsschutzgesetzes Alexander Gauland
Warnt vor einer "Gesundheitsdiktatur": Alexander Gauland von der AfDBild: Michael Kappeler/dpa/picture alliance

Das hatten nicht nur Vertreter der Protestbewegung gegen die Corona-Politik der Bundesregierung getan. Auch Politiker der AfD behaupten, die Gesetzesnovelle gebe der Regierung diktatorische Befugnisse wie 1933 der Regierung Hitler.

Von einer nahenden "Gesundheitsdiktatur" sprach der AfD-Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland in der Debatte im Bundestag. "Die heutige Gesetzesvorlage ist eine Ermächtigung der Regierung, wie es das seit geschichtlichen Zeiten nicht mehr gab", sagte der parlamentarische Geschäftsführer der AfD-Fraktion, Bernd Baumann. Das sei "nicht nur geschichtsblind, sondern auch eine völlige Verharmlosung des Nationalsozialismus", hält SPD-Politiker Lindh dagegen.

1933: Selbstabschaffung des Parlaments

Am 23. März 1933 hatte Adolf Hitler dem Reichstag das "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" vorgelegt, das sogenannte "Ermächtigungsgesetz". Darin heißt es: "Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden." Und: "Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze können von der Reichsverfassung abweichen."

Nationalsozialismus Ermächtigungsgesetz Gleichschaltung Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich
Veröffentlichung des Ermächtigungsgesetzes im März 1933 im Reichsgesetzblatt: Abschaffung der Demokratie Bild: picture-alliance / akg-images

Damit ging die Macht im Staat ganz an Hitler und seine NSDAP über. Die Gewaltenteilung war faktisch aufgehoben. "Danach war der Parlamentarismus in Deutschland tot", sagt Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München. "Das war die Selbstabschaffung des Parlamentes", so Wirsching weiter im DW-Gespräch. "Die meisten Parlamentarier wussten das auch, als sie für das Gesetz stimmten."

Historiker: "Vergleich ist Unsinn"

Fast 100 Reichtagsabgeordnete der Kommunistischen Partei waren zu diesem Zeitpunkt schon inhaftiert, hatten das Land verlassen oder waren in den Untergrund gegangen. Vor der Abstimmung im Parlament hatte die NSDAP die "Sturmabteilung" der Partei aufmarschieren lassen, die SA. Auf mögliche Abweichler sollte so Druck ausgeübt werden. Vergleiche zwischen damals und heute seien "schlicht demagogisch", sagt Wirsching. "Das "Ermächtigungsgesetz" hatte nur ein Ziel: die Diktatur. Insofern ist der Vergleich Unsinn."

Historiker Andreas Wirsching zur Corona-Krise
Der Historiker Andreas Wirsching kritisiert den Vergleich mit 1933Bild: Matthias Balk/dpa/picture alliance

Die sachliche Kritik am aktuellen Infektionsschutzgesetz könne er jedoch verstehen, sagt der Historiker. Das Infektionsschutzgesetz ermöglicht der Regierung, bei "epidemischen Lagen von nationaler Tragweite" mit Verordnungen Grundrechte zu beschränken, etwa durch Ausgangsbeschränkungen.

"Man muss die Wirkung beachten, die eine solche weitgehende Ermächtigung, wie sie im jetzigen Infektionsschutzgesetz steht, entfalten kann", sagt Wirsching. "Auch ohne dass sie irgendjemand beabsichtigt." Man könne auch durchaus einen Vergleich zur Weimarer Republik ziehen, der ersten deutsche Demokratie von 1919 bis 1933. Allerdings, so Wirsching, sollte man dann auf das Jahr 1923 schauen.

1923: Ermächtigung gegen die Hyperinflation

Damals herrschte Hyperinflation in Deutschland, die Arbeitslosigkeit stieg, die Wirtschaft drohte zu kollabieren. Angesichts dieser Lage hatte der Reichstag im Oktober 1923 ein Ermächtigungsgesetz beschlossen. "Die Regierung wurde kurzzeitig ermächtigt, die Maßnahmen zu treffen, die sie auf finanziellem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet für erforderlich und dringend erachtete", erläutert Wirsching. Ziel sei es gewesen, Stabilität zu schaffen und so die junge Demokratie zu stützen.

"In der Wirkung sieht man das in der Forschung jedoch relativ kritisch, weil der Reichstag seine Verantwortung gewissermaßen abgegeben hat", sagt Wirsching. "Und zehn Jahre später, 1933, wusste man, dass es eine solche Möglichkeit gibt, weil sie in der Demokratie schon einmal durchgeführt worden ist."

1933 stimmte schließlich eine Mehrheit von 444 Abgeordneten für das Ermächtigungsgesetz, das Hitler uneingeschränkte Macht gab. "Als Sozialdemokrat ist es für mich besonders bitter, dass einige das mit heute vergleichen", sagt Helge Lindh von der SPD. "Die Sozialdemokraten waren 1933 die letzten im Parlament Verbliebenen, die gegen das Ermächtigungsgesetz stimmten. Sie wurden dann zum Teil verhaftet, verloren ihre Mandate und Schlimmeres. Deshalb ist dieser Vergleich für uns unerträglich."

Unterstützung geht zurück

Lindh sagt, dass er nach wie vor auf einen Dialog mit den Gegnern der Corona-Maßnahmen hofft. Auch mit denen, die am Mittwoch in Berlin demonstrierten. Sie lägen falsch mit der Annahme, das neue Infektionsschutzgesetz gebe der Regierung freie Hand. "Das Gesetz ist notwendig, um Menschenleben zu retten", sagt er. "Aber es begrenzt die Eingriffe der Regierung, es entgrenzt sie nicht."

Helge Lindh, MdB
"Menschenleben retten": Helge Lindh von der SPD verteidigt das InfektionsschutzgesetzBild: Christoph Busse

Bisher hatte die Regierung sich schlicht darauf berufen können, mit Verordnungen die gesetzlich vorgesehenen "notwendigen Maßnahmen" gegen die Corona-Pandemie zu ergreifen. Diese sogenannte Generalklausel soll nun nicht mehr gelten. Maßnahmen müssen nun begründet und zeitlich befristet werden - in der Regel auf vier Wochen.

Die Unterstützung der Bevölkerung für die Maßnahmen der Regierung gegen die Corona-Pandemie scheint jedoch zu sinken. Laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach ist die Zahl derjenigen, die die Maßnahmen kritisch sehen, in den vergangenen drei Monaten von 15 auf 28 Prozent angewachsen. Mit Demonstrationen wie am Mittwoch in Berlin wird man also auch in Zukunft rechnen müssen.