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Berlins Außenpolitik im Krisenmodus: Israel, Ukraine und Co.

28. Dezember 2023

Deutschland muss Antworten finden auf zwei Kriege, ein zunehmend aggressives China und eine Weltordnung im Umbruch. Stürmische Zeiten für Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock.

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Boris Pistorius und Olaf Scholz hören einer gestikulierenden Annalena Baerbock zu
Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), links, Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gestalten die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik.Bild: ANNEGRET HILSE/REUTERS

Anfang Dezember kürte die Gesellschaft für deutsche Sprache den Begriff "Krisenmodus" zum Wort des Jahres. Der Begriff beschreibt treffend den Zustand der deutschen Außenpolitik. Dabei ist der Krieg zwischen der Hamas und Israel nur die jüngste schwere Krise, wenngleich die derzeit dramatischste. Sie könnte einen Flächenbrand auslösen mit möglicherweise verheerenden Folgen.

Um das zu verhindern, versucht Deutschland einen Spagat: Israels Sicherheit, so hat es Bundeskanzler Olaf Scholz betont, ist deutsche "Staatsräson". Diese Verpflichtung ergibt sich für ihn aus der nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit. Das hält Außenministerin Annalena Baerbock aber nicht davon ab, Israel in seinem Kampf gegen die Hamas auch zu kritisieren. Im DW-Exklusivinterview beklagte sie im November beispielsweise die Gewalt jüdischer Siedler im Westjordanland gegen Palästinenser: "Der israelische Premierminister muss diese Siedlergewalt verurteilen, sie muss strafrechtlich verfolgt werden, das ist auch im Interesse der Sicherheit Israels."

Panzer zwischen halb zerstörten Häusern in einer staubigen Landschaft in Gaza
Israelische Panzer im Gaza-Streifen: Deutschland gesteht Israel das Recht auf Selbstverteidigung zu, will aber auch mäßigend auf die Regierung einwirken.Bild: Israel Defense Forces/Handout via REUTERS

Deutschland beteiligt sich aber auch an der Diskussion über einen Nahen Osten nach einem Ende des Krieges. Zur Zukunft des Gazastreifens riet Baerbock im DW-Interview: "Es braucht, um für Sicherheit zu sorgen, internationale Verantwortung."

An der Idee einer Zweistaatenlösung hält Deutschland fest, so wie auch die EU und die US-Regierung. Demnach soll es neben dem israelischen auch einen palästinensischen Staat geben. Der Nahostexperte Hans-Jakob Schindler von der internationalen Organisation Counter Extremism Project sagte der DW dazu, die Zweistaatenlösung sei "ein sehr entferntes, sehr vages Ziel", aufgrund des aktuellen Konflikts und dessen, "was in den letzten zwanzig Jahren passiert ist."

"Aber welche andere Lösung gibt es denn außer der Zweistaatenlösung?", fragt Schindler rhetorisch und rät der Bundesregierung, dieses Ziel weiter zu verfolgen.

Russlands Ukraine-Invasion hat die Sicherheit zerstört

Wohl kein außenpolitisches Ereignis der vergangenen Jahrzehnte hat Deutschland und Europa so herausgefordert wie der russische Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022. Deutschland leistet umfangreiche Militärhilfe, wie andere westliche Länder auch. Trotzdem ist die Ukraine auch knapp zwei Jahre später bei der Rückeroberung russisch besetzter Gebiete kaum vorangekommen.

Ein Mann auf einem Fahrrad in Avdiivka vor einem größeren Wohngebäude, dessen mittlerer Teil eingestürzt ist
Russland hat in der Ukraine auch viele zivile Stadtteile in Schutt und Asche gelegt, wie hier in Avdiivka.Bild: Aris Messinis/AFP

Die Bereitschaft, der Ukraine militärisch zu helfen, bröckelt inzwischen unter den westlichen Staaten, auch beim mit Abstand wichtigsten Unterstützer USA. Sollte dort im kommenden Jahr erneut Donald Trump zum Präsidenten gewählt werden, dürfte Washington seine Ukraine-Hilfe zumindest deutlich abspecken.

Ukraine-Krieg: Verhandlungs- oder militärische Lösung?

Die Kriegsmüdigkeit im Westen setzt deren Politiker unter Druck, über eine Beendigung des Krieges am Verhandlungstisch nachzudenken. Der Politikwissenschaftler Johannes Varwick von der Universität Halle hält das ohnehin für unumgänglich. "Ich glaube, ein Waffenstillstand und dann schwierige diplomatische Verhandlungen über territoriale Veränderungen in der Ukraine, über Neutralität der Ukraine, all das gehört auf den Tisch", sagte Varwick der DW.

Eine Lösung nach der Formel "Land gegen Frieden" hätte nach den Worten von Roman Goncharenko von der Ukrainischen Redaktion der DW jedoch in der Ukraine keine Chance, akzeptiert zu werden: "Zu viel ist passiert, zu groß das Leid. Das wäre eine Belohnung für Russland."

Der CDU-Sicherheitspolitiker Roderich Kiesewetter hält alles Reden über eine Verhandlungslösung für gefährlich, ein militärischer Sieg der Ukraine sei möglich: "Die Befreiungsoffensive wird vom Westen selbst behindert, weil zu wenig und zu spät geliefert wird", schrieb er kürzlich der DW. Die Strategie müsse sein: "Alles (an Waffen) liefern, so schnell wie möglich."

Fast verzweifelt machte Annalena Baerbock bei einem NATO-Treffen Ende November deutlich, dass es aus ihrer Sicht keine Alternative zu einer weiteren Unterstützung gibt – "so schwer, so anstrengend, so festgefahren die Situation" auch scheine.

China gilt als zunehmend bedrohlich

Viel hat sich verändert im chinesisch-deutschen Verhältnis seit der Kanzlerschaft Angela Merkels 2005 bis 2021. Fasste Merkel die chinesische Regierung aus handelspolitischen Interessen mit Samthandschuhen an, heißt es in dem im Sommer 2023 verabschiedeten Strategiepapier der amtierenden Regierung von SPD, Grünen und FDP, China sei für Deutschland und die EU zugleich "Partner, Wettbewerber und systemischer Rivale". Wobei Berlin die Rivalität immer stärker betont.

Großflächige Luftaufnahme zahlreicher Marineschiffe im Pazifik
Chinesisch-russischer Schulterschluss gegen den Westen: Gemeinsames Marinemanöver im PazifikBild: Pacific Fleet Information Office/Tass/dpa/picture alliance

Die Bundesregierung sieht mit Sorge das chinesische Säbelrasseln gegenüber Taiwan, das von China als abtrünnige Provinz betrachtet wird, und Chinas enges Verhältnis zu Russland - der Ukraine-Invasion zum Trotz. In der Folge wird China in Berlin zunehmend als Unruhestifter und Störer der weltpolitischen Ordnung wahrgenommen.

Allerdings ist das Land schon seit 2016 wichtigster Handelspartner Deutschlands. Im Zentrum der China-Strategie der Bundesregierung steht daher nicht eine Entkoppelung der Volkswirtschaften, was Deutschland selbst zu sehr schaden würde, wohl aber das Bemühen, einseitige wirtschaftliche Abhängigkeiten von China abzubauen.

Moralische Werte versus wirtschaftliche Interessen?

Bei China zeigen sich besonders deutlich die Grenzen einer betont werteorientierten Außenpolitik, wie sie vor allem die grüne Außenministerin Baerbock vertritt. Im April antwortete der damalige chinesische Außenminister Qin Gang auf die Mahnung Baerbocks, die Menschenrechte stärker zu achten: "Was China am wenigsten braucht, ist ein Lehrmeister aus dem Westen."

Annalena Baerbock, lächelnd, reicht dem finster dreinblickendem Qin Gang die Hand, beide blicken in die Kamera, im Hintergrund eine deutsche und eine chinesische Flagge
Chinas früherer Außenminister Qin Gang hat sich Belehrungen durch Baerbock in Sachen Menschenrechte verbetenBild: Kira Hofmann/photothek/IMAGO

Morten Freidel schrieb in der Online-Ausgabe der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 30.11.2023: "In einer Welt, in welcher der liberale Westen unter Druck gerät, macht man sich schnell Feinde, wenn man ständig auf Werte pocht. Das heißt nicht, dass Werte überflüssig sind. Nur, dass man sie nicht ständig vor sich hertragen sollte." Freidel rät dazu, dass Deutschland "lieber Interessen ausformulieren" solle.

Henning Hoff von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik bewertet die Außenpolitik der Bundesregierung dagegen positiver. Diese habe den "angeblichen Widerspruch (zwischen interessen- und wertegeleiteter Außenpolitik) überwunden, indem sie klarmacht, es geht immer um beides, Werte und Interessen", sagt Hoff der DW. "Wenn man Werte komplett ausblendet, wie wir das gemacht haben gegenüber Russland, dann hat das katastrophale Folgen, und die sehen wir in der Ukraine."

Berlins schwierige Suche nach Verbündeten

Beim Ukraine-Krieg musste die Bundesregierung eine bittere Erfahrung machen: Bei der weltweiten Suche nach Verbündeten, die bereit wären, Russland-Sanktionen mitzutragen, winkten zahlreiche Entwicklungs- und Schwellenländer ab; sie wollen weiterhin Handel mit Moskau treiben.

Saal der Vereinten Nationen mit einer stilisierten Weltkarte und einer Anzeigetafel, darauf die Worte "Abstimmungsergebnis: dafür 141, dagegen 7, Enthaltungen 32
Bei UN-Resolutionen, die Russlands Invasion in der Ukraine verurteilen, gibt es immer wieder zahlreiche Enthaltungen und einige Gegenstimmen, hier Ende Februar 2023.Bild: John Minchillo/AP/picture alliance

Staaten, die eigentlich dem Westen zugerechnet werden, wie Indien und Brasilien, "entdecken in dieser sich wandelnden Weltordnung neue Spielräume, indem sie sich die Freiheit nehmen, sich nicht auf die eine oder andere Seite zu schlagen", sagt Henning Hoff. Die Regierung Scholz gehe aber auf diese Staaten zu und suche einen Dialog auf Augenhöhe. Dies sei "eine aktive Erweiterung der bisherigen deutschen Außenpolitik, und auf diesem Kurs, denke ich, liegt Berlin im großen und ganzen richtig".

Deutsche werden interventionsmüde

Die Bundesregierung sucht Antworten auf weltpolitische Ereignisse wie die Kriege in der Ukraine und dem Nahen Osten oder die Auseinandersetzung mit China. Ob es Deutschland passt oder nicht, von der stärksten europäischen und weltweit viertgrößten Wirtschaftsmacht erwarten nicht zuletzt die USA und die EU eine aktivere Rolle.

Doch bei den meisten Deutschen stößt das offenbar auf wenig Gegenliebe. In einer Umfrage der Körber-Stiftung jedenfalls sagte im September eine Mehrheit von 54 Prozent, dass sich Deutschland bei internationalen Krisen mehr zurückhalten sollte. Nur 38 Prozent wünschten sich ein stärkeres Engagement - der niedrigste Wert seit Beginn der Umfragen dazu im Jahr 2017, als das noch 52 Prozent wollten.

Außerdem spricht sich inzwischen eine satte Mehrheit von 71 Prozent gegen eine militärische Führungsrolle Deutschlands in Europa aus. Es scheint, als wünschten sich die Deutschen vor allem eines: Ruhe von den Stürmen der Weltpolitik. Ein Wunsch, dessen Erfüllung höchst fraglich ist.

Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik