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Ermittlungen gegen indische Schriftstellerin Arundhati Roy

Manasi Gopalakrishnan
13. November 2023

Die indische Booker-Preis-Gewinnerin Arundhati Roy sollte beim Literaturfest München auftreten. Doch nun droht ihr eine Haftstrafe - wegen einer Bemerkung aus dem Jahr 2010.

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Arundhati Roy
Arundhati Roy hat eine weltweite Fangemeinde Bild: Getty Images/AFP/M. Sharma

Ursprünglich sollte Arundhati Roy bei der Eröffnung des Literaturfests München eine Rede vor Ort halten. Doch statt persönlich teilzunehmen, wird sie nun aus ihrer Heimat zugeschaltet - Roy wird die Ausreise verweigert. Die Ursache liegt mehr als ein Jahrzehnt zurück: Im Jahr 2010 hatte die Schriftstellerin auf einer Menschenrechts-Konferenz in Delhi gesagt, die Himalaya-Region Kaschmir sei nie fester Bestandteil Indiens gewesen.

Eine Anzeige wegen des Vorwurfs "provokativer Reden" und "Volksverhetzung verlief im Sande - bis jetzt. Auf Weisung eines ranghohen Beamten aus Delhi wird wegen der lange zurückliegenden Aussage nun wieder gegen Arundhati Roy ermittelt. Medienberichten zufolge drohen ihr wegen "Unruhestiftung" bis zu sieben Jahre Haft. 

Der Schritt der Justiz stößt aber bereits auf Widerstand. U.a. warnte die Autorin Meena Kandasamy Premier Narendra Modi von der hindunationalistischen Regierungspartei BJP auf X (ehemals Twitter), dass dieses Vorgehen das nationale wie internationale Ansehen der Regierung beschädigen könne. Der Anwalt und Aktivist Prashant Bhushan twitterte, dass die Regierung wohl Angst vor der Wahrheit habe, da sie sich auf eine so alte Rede Roys einschieße.

Die frühen Jahre

Die regierungskritische Autorin hat zahlreiche Essays und Romane veröffentlicht, in denen sie ihre politischen Überzeugungen mit raffiniertem Wortwitz verbindet. Internationale Bekanntheit erlangte Roy 1997 mit ihrem Roman "Der Gott der kleinen Dinge", für den sie im selben Jahr den renommierten Man-Booker-Literaturpreis (jetzt Booker-Preis) erhielt. Der Roman ist ein Familiendrama und erzählt die Geschichte von zweieiigen Zwillingen, die sich durch die Komplexität der indischen Gesellschaft bewegen: Es geht um eine verbotene Liebe, Religionen und das Kastensystem. Die Handlung spielt in Kerala und Kalkutta und ist teilweise autobiografisch.

Roy selbst wurde in Shillong im Nordosten Indiens geboren. Ihre Mutter war eine Christin aus Kerala und ihr Vater, den sie erst mit 28 kennenlernte, ein bengalischer Hindu. Nach der Trennung ihrer Eltern zog Roy nach Kerala und später nach Delhi, um Architektur zu studieren. Das Schreiben blieb jedoch immer ihre eigentliche Berufung. In ihren frühen Jahren als Schriftstellerin verfasste sie Drehbücher für Film und Fernsehen. In dieser Zeit entstanden der Arthouse-Film "In Which Annie Gives It Those Ones" (1989) und ein Film mit dem Titel "Electric Moon" (1992).

Politisches Schreiben

Nachdem sie mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, widmete sich Roy in den folgenden Jahren verstärkt sozialen Anliegen und schrieb über die politische und soziale Lage in Indien und der Welt. Im Jahr 1999 veröffentlichte sie ein bahnbrechendes Essay mit dem Titel "The Greater Common Good" (Das größere Gemeinwohl). Darin schrieb sie über eine Widerstandsbewegung, die sich um den Bau der Sardar-Sarovar-Talsperre am Fluss Narmada in Westindien formiert hatte.

Arundhati Roy steht vor einem Protestler, im Hintergrund Polizei
Solidarisch mit den Unterdrückten: Arundhati Roy protestierte 2006 mit Bauern gegen den Beschluss der Regierung, ihr Land der Autofirma Tata Motors zu überlassen Bild: PRAKASH SINGH/AFP/Getty Images

In dem Essay hob Roy die Notlage der am Fluss ansässigen Stammesgemeinschaften hervor. Ihre Dörfer drohten nach dem Bau des Dammes überflutet zu werden. Das Essay erregte weltweites Interesse. Nicht zuletzt, weil Roy wegen ihrer "verunglimpfenden" Schrift - so nannte es der indische Oberste Gerichtshof - in ein Gerichtsverfahren verwickelt wurde.

2001 schrieb Roy zu den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA einen Artikel mit dem Titel "The Algebra of Infinite Justice" (Algebra der unendlichen Gerechtigkeit), der später in einem Sammelband zusammen mit anderen politischen Schriften der Autorin veröffentlicht wurde.

Roys Worte, die sie vor dem Einmarsch amerikanischer Truppen im Irak niederschrieb, klangen fast prophetisch: "Das Problem ist, dass die Vereinigten Staaten, wenn sie erst einmal in den Krieg ziehen, nicht mehr umkehren können, ohne einen Krieg geführt zu haben. Wenn sie keinen Feind  finden, müssen sie sich um der aufgebrachten Leute im eigenen Land willen einen Feind schaffen." Roy sagte auch voraus, dass der "Krieg gegen den Terror" in den USA zur Verfolgung von Minderheiten, zu strengeren Vorschriften und zur Einschränkung der persönlichen Freiheiten führen werde.

Wegen Aufwiegelung angeklagt

Roys literarisch-politischer Aktivismus flammte 2010 erneut auf, als sie sich als Unterstützerin der Unabhängigkeitsbestrebungen Kaschmirs von Indien bekannte - was ihr damals die Anzeige wegen Volksverhetzung einbrachte, die sie jetzt wieder einholt. Ein Jahr später veröffentlichte sie ein Buch mit dem Titel "Wanderung mit den Genossen", in dem sie über ihre Zeit mit kommunistischen Guerillas im zentralindischen Bundesstaat Chattisgarh berichtet.

Die Aufständischen, die wegen ihrer Anlehnung an die revolutionären Ideen des chinesischen Kommunistenführers Mao Tse Tung auch Maoisten genannt werden, kämpfen seit Jahrzehnten gegen den indischen Staat. Sie behaupten, die rückständigsten Klassen, Kasten und Stammesgemeinschaften Indiens zu vertreten.

Buchcover: "Das Ministerium des äußersten Glücks" von Arundhati Roy
Der Titel täuscht - es gibt viele Konflikte in diesem Buch

Zwei Jahrzehnte nach ihrem ersten Roman, "Der Gott der kleinen Dinge", veröffentlichte Roy 2017 ihr zweites fiktionales Werk: "Das Ministerium des äußersten Glücks". Es erzählt die Geschichte der Transfrau Anjum und einer Architektin namens Tilo, die zur politischen Aktivistin wird. Der Roman erhielt gemischte Kritiken und wurde von der US-amerikanischen US-Zeitschrift "The Atlantic" gar als "fantastisches Durcheinander" bezeichnet. Wie in ihren früheren Werken verflicht Roy auch hier Fiktion und aktuelle Politik und setzt damit ihr Statement zum indischen Alltag.

Das politische "Gewissen"

Arundhati Roys Genre ist zweifellos das politische Essay. Ihre Schriftensammlung aus dem Jahr 2020 mit dem Titel "Azadi heißt Freiheit" befasst sich mit Themen wie Indiens "rechtsgerichteter, faschistischer" Regierung oder der Corona-Pandemie.

Buchcover | Azadi heißt Freiheit | von Arundhati Roy
Auf Deutsch erschien das Buch "Azadi heißt Freiheit" 2021

In einem Essay des Bandes mit dem Titel "Durch das Tor des Schreckens", das Anfang 2021 auch von der britischen Tageszeitung "Financial Times" veröffentlicht wurde, erörtert sie, wie die Ausbreitung des Coronavirus Schwachstellen in den Sozialsystemen und der Infrastruktur weltweit offengelegt hat. In Indien habe der Mangel an Gesundheitseinrichtungen die Kluft zwischen Arm und Reich sowie zwischen den oberen und unteren Kasten und Klassen vertieft. In den USA werden die Armen nicht ausreichend unterstützt, schreibt sie.

Roys politische Schriften wurden oft als zu parteiisch und bissig bezeichnet. Tatsache ist, dass sie als Schriftstellerin der Gesellschaft, in der sie lebt, einen Spiegel vorhält - nicht nur Indien, sondern der ganzen Welt. Aber sie geht noch einen Schritt weiter, als nur ihre Meinung zu äußern: Sie fordert die Leserinnen und Leser auf, eine Lösung zu finden. Obwohl ihr jetzt die Haft droht, lässt Arundhati Roy sich nicht einschüchtern. Und so wird sie in München eben per Videoschalte über die aktuelle Situation in Indien und über schwindende Pressefreiheit sprechen.

Die Autorin brauche jetzt "die internationale Öffentlichkeit mehr denn je",  ließen die Organisatoren des Literaturfests München wissen.

Übersetzung aus dem Englischen: Kevin Tschierse 

Dies ist die aktualisierte Fassung eines Artikels vom 24.11.2021.