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GesellschaftAfrika

Aachen ehrt Nigerias Friedensfrauen

Uta Steinwehr
13. November 2021

Der Gewalt in ihrer Heimat mit friedlichen Mitteln begegnen, das ist das Ziel Tausender Musliminnen und Christinnen in Kaduna in Nigeria. Für ihre Arbeit erhielten sie nun den Aachener Friedenspreis.

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Zwei Frauen lachen in die Kamera
Trotz oder gerade wegen eigener Gewalterfahrungen engagieren sich Frauen wie Elizabeth Majinya Abuk (l.) für den Frieden Bild: Hartmut Schwarzbach/missio

"Wir waren so glücklich, sind immer noch glücklich und werden weiter glücklich sein", sagt Daharatu Ahmed Aliyu. "Und jetzt sind wir internationale Superstars!", wirft Elizabeth Majinya Abuk lachend aus dem Hintergrund ein. 

Die beiden Frauen waren erst wenige Stunden zuvor in Deutschland angekommen, als die DW telefonisch mit ihnen spricht - zwei Tage vor der Verleihung des Aachener Friedenspreises, den sie an diesem Samstag stellvertretend für die Organisation Women's Interfaith Council (Interreligiöser Frauenrat, WIC) aus Nigeria entgegennahmen.

Frauen eine Stimme geben

Geehrt wird die Frauenorganisation für ihre interreligiöse Arbeit im Bundesstaat Kaduna in Nigeria: Christinnen und Musliminnen treten zusammen ein für ein friedliches Miteinander. "Eine Gesellschaft, die Frauen vernachlässigt, kann sich niemals entwickeln, kann niemals voranschreiten", sagt Schwester Veronica Onyeanisi, die 2019 die Hauptgeschäftsführung des WIC übernommen hat und ebenfalls zur Preisverleihung angereist war. "Also versuchen wir, Frauen eine Stimme zu geben, damit sie positiv zur Gesellschaft beitragen können."

Infografik Karte Nigeria Kadun DE

Kaduna im Nordwesten des Landes ist laut Daten der nationalen Statistikbehörde mit geschätzt 8,3 Millionen Einwohnern der drittgrößte Bundesstaat Nigerias. Groben Schätzungen zufolge sind ungefähr 60 Prozent der Bevölkerung Muslime, 40 Prozent Christen. 

Kaduna: Einst vereint

"Das Leben in Kaduna war einmal sehr schön", erzählt Schwester Veronica. "Die Menschen lebten friedlich zusammen, feierten zusammen, bis religiöse Fanatiker und Politiker entschieden, Religion zu nutzen, um die Leute zu entzweien." Misstrauen habe sich breit gemacht. Das habe dazu geführt, dass Muslime sich eher im nördlichen Teil des Bundesstaats ansiedelten, Christen im Süden, erzählt sie. 

Immer wieder kommt es zu Anschlägen, Gewalttaten, Entführungen. Erst vor wenigen Monaten wurden kurz hintereinander Schülerinnen und Schüler sowie Studierende entführt, mal waren es mehr als hundert, mal Dutzende. Dabei geht es Banditen auch darum, Lösegeld zu erpressen.

Einige Schuhe bunt zusammengewürfelt auf dem Boden, im HIntergrund stehen Menschen im halbkreis
Stumme Zeugen eines Verbrechens: Bei einer Entführung im Juli haben einige der Opfer ihre Schuhe verlorenBild: Kola Sulaimon/AFP/Getty Images

2010 wurde der Women's Interfaith Council gegründet, um der eskalierenden Gewalt etwas entgegenzusetzen. Die Frauen des WIC besuchen die Opfer von Anschlägen und Gewalttaten, leisten Beistand. Aber sie organisieren auch Weiterbildungen für andere Frauen und für Jugendliche. Und vor allem bieten sie Halt durch eine Gemeinschaft, sorgen dafür, dass Frauen der beiden Religionen zusammenkommen, indem sie wichtige Feiertage beider Religionen zusammen begehen.

Religion nur als Vorwand benutzt

Oft heißt es, die Konflikte in der Region seien religiöser Natur. Doch die Religionen würden dabei für Machtausübung missbraucht, kritisiert der WIC. "In der heiligen Bibel und dem heiligen Koran ist die Rede von friedlicher Koexistenz. Warum lehren die Führer nicht das, was in den Schriften steht?", fragt Schwester Veronica. Deshalb organisiert der WIC auch Seminare, in denen den Menschen die Grundlagen des Islam und des Christentums erklärt werden. "Wenn ihnen dann Menschen etwas Falsches erzählen, können sie sagen: 'Nein, das ist nicht, was in den heiligen Schriften steht.'"

Hütten in einem Flüchtlingslager, eine Menschengruppe mit Wasserkanistern
Alleine im Nordosten Nigerias haben die verschiedenen Konflikte mehr als 2 Millionen Menschen zu Vertriebenen gemachtBild: Gilbertson/ZUMAPRESS/picture alliance

Der WIC lebt vom Engagement der mehreren tausend Frauen, die in 23 Einzelverbänden organisiert sind. Viele von ihnen sind persönlich von Gewalt betroffen - sei es direkt selbst oder in ihren Familien. Eine von ihnen ist Elizabeth Majinya Abuk, die die christlichen Organisationen im WIC koordiniert.

Aufgeben ist keine Option

Schon vor der Gründung des WIC habe sie mit christlichen Frauenverbänden in Kaduna gearbeitet. Als sie gefragt wurde, ob sie sich im Women's Interfaith Council engagieren möchte, habe sie zunächst gezögert. Sie selbst hatte gerade erst einen schweren Schicksalsschlag hinter sich. Ihre Schwester und deren Familie waren bei einem Überfall brutal getötet worden. 

Doch Abuk hat eine "passion for peace", so formuliert sie es: Ihre Leidenschaft ist der Frieden. Und diese half ihr, nicht aufzugeben, nicht den Glauben in die gute Sache zu verlieren, obwohl in den Folgejahren weitere Schicksalsschläge hinzukamen. Die meisten ihrer Familienangehörigen leben momentan als Vertriebene im eigenen Land, erzählt sie. "Ich möchte nicht, dass das, was meiner Familie passiert ist, einer anderen Person widerfährt. Und deswegen verfolge ich mit all meiner Kraft, mit all meinen Gedanken das Ziel, dass wir friedlich zusammenleben müssen."

Zwei Frauen stehen mit ernsten Mienen bei einer größeren Gruppe Männer
Beistand geben: Elizabeth Abuk (l.) und Schwester Veronica treffen die Überlebende eines gewaltsamen ÜberfallsBild: Hartmut Schwarzbach/missio

Daharatu Ahmed Aliyu, die die muslimischen Verbände vertritt, hat nie an dem gezweifelt, was sie tut: "Alles hat seine Zeit. Es ist nicht leicht, es gibt so viele Herausforderungen." Sie erinnert sich an die Anfangszeit, als sie zunächst als Journalistin über die Entstehung des WIC berichte. Ein Kollege in der Redaktion hielt es für einen Witz, dass sich Christinnen und Musliminnen zusammenschließen wollten. "Wenn es an der Zeit ist, dass die Krise endet, wird sie enden", ist sich Aliyu sicher.

Auch Männer einbinden

Um ihre Ziele zu erreichen, müssen sie auch die Männer ins Boot holen, die in der Gesellschaft meist das Sagen haben. Daher besuchen die Frauen traditionelle und religiöse Anführer, bevor sie ein Projekt starten, sagt Schwester Veronica. "Einige begegnen uns mit Sorgen, wegen ihrer Erfahrungen mit anderen Nichtregierungsorganisationen". Doch die Frauen des WIC können sehr überzeugend sein: "Wissen Sie, Gott hat Frauen eine Gabe gegeben, die niemand sonst hat. Frauen können für jeden da sein, egal, wie hart die Person ist."

Elizabeth Abuk ergänzt, dass der WIC durch die Arbeit mit Jugendlichen schon früh ansetze, um Vorurteile zwischen Religionen und Geschlechtern abzubauen. Wenn die jungen Männer später die Möglichkeit haben, eine Führungsrolle zu übernehmen, ist sich Abuk sicher, dann werden sie es besser machen.

Aus Sicht des Vorstands des Aachener Friedenspreises ist das Engagement der Frauen "sehr preiswürdig", wie Lea Heuser, Vorstandsmitglied und Pressesprecherin des Vereins, der DW sagt. Sie betont die "große Solidarität von selbst betroffenen Frauen gegenüber anderen Frauen, die einer massiven Gewalt und einem massiven patriarchalen System ausgesetzt sind, die aber trotz ihrer eigenen Traumatisierungen und Gewalterfahrungen dagegen aufstehen, sich gegenseitig sehr solidarisch unterstützen und über alle Grenzen hinweg diese Solidarität leben". 

Und die Ergebnisse der Arbeit sprechen für sich: Andere Bundesstaaten hätten sie bereits kontaktiert und um Hilfe gebeten, weil auch sie interreligiöse Frauenräte schaffen wollten, sagt Schwester Veronica.

Dieser Beitrag wurde am 13. November nach der Verleihung des Aachener Friedenpreises aktualisiert. Neben dem Women's Interfaith Council wurden auch zwei Initiativen für ihre Antirassismusarbeit nach den Morden von Hanau geehrt.