20 Jahre EU-Osterweiterung - wie geht's weiter?
1. Mai 2024"Big Bang" (Paukenschlag), diesen Spitznamen trägt die Erweiterung der Union um zehn Staaten am 1. Mai 2004 im EU-Jargon. Die Zahl der Mitgliedsstaaten stieg über Nacht von 15 auf 25. Der Kontinent war 15 Jahre nach dem Fall der Mauer und dem Ende der sowjetischen Vorherrschaft in Osteuropa wieder vereint. Mit Volksfesten und Feuerwerken, Festreden und dem Durchsägen von Schlagbäumen wurde vor 20 Jahren von Estland im Norden bis Slowenien im Süden gefeiert. Die Mittelmeerinseln Malta und Zypern wurden ebenfalls aufgenommen.
"Das war ein starkes Signal an Russland, aber nicht nur das. Es zeigte die Fähigkeit der EU, starke Entscheidungen zu fällen, sich zu erweitern und Bedingungen zu erfüllen. Das lief so positiv ab, weil es in der EU und in den Beitrittsländern die entsprechenden politischen Bedingungen gab, die günstiger waren, als sie es heute sind", meint Tefta Kelmendi von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations in Brüssel.
Vereinigung ohne Alternative
Sowohl für die EU als auch für die zehn neuen Mitgliedstaaten war die Erweiterung eine gute Sache, sagt die EU-Expertin Kelmendi im Gespräch mit der DW. Das Wirtschaftswachstum in den beitretenden Ländern zog im europäischen Binnenmarkt an. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit wurden nach Untersuchungen der Bertelsmann-Stiftung, einem gesellschaftspolitischen Forschungsinstitut in Deutschland, gestärkt.
Ausnahmen bildeten Ungarn und Polen. Dort haben sich die Regierungen über Jahre von europäischen Werten entfernt. In Polen kehrt sich der Trend seit dem Regierungswechsel im vergangenen Jahr wieder um. Nach dem Transformationsindex der Bertelmann-Stiftung erreichen die baltischen Staaten, Tschechien, Slowenien und die Slowakei die Bestnote als "Demokratie in Konsolidierung". Polen und Ungarn werden als "defekte Demokratien" ausgewiesen.
Zur Erweiterung der EU 2004 und der etwas verzögerten Aufnahme Bulgariens (2007), Rumäniens (2007) und Kroatiens (2013) gab es keine Alternative, glaubt EU-Experte Hans Kribbe vom Brüsseler Institut für Geopolitik (BIG): "Es war unausweichlich das zu machen als Antwort auf historische Umbrüche und den Zerfall der Sowjetunion und des Ostblocks."
Zwei weitere Wellen erwartet
"Die EU-Kommission spielt natürlich ihre Rolle als jubelnde Anhängerin der Erweiterung", sagt Kribbe. Intern sei man sich aber bewusst, dass man aus der großen Erweiterungswelle auch Lehren für die Zukunft ziehen müsse. Vor allem habe die EU lernen müssen, dass sie aufnahmefähiger werden und ihre Verfahren und Abläufe verschlanken müsse. Bisher gebe es für eine solche Reform der heutigen Europäischen Union aber keinen Plan und keinen Zeithorizont.
Dabei stehen die nächsten Erweiterungen an. Sechs Staaten auf dem westlichen Balkan von Bosnien-Herzegowina bis Albanien sollen aufgenommen werden. Die Ukraine, Moldau und Georgien sind die jüngsten Beitrittskandidaten, die vor allem wegen der Bedrohung durch Russland ein Expressticket in die EU lösen könnten.
Den Westbalkan-Staaten wurde der Beitritt wieder und wieder versprochen. Heranführung, Verhandlungen, Anpassungen, all das hat nach den Bürgerkriegen im ehemaligen Jugoslawien Jahrzehnte in Anspruch genommen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wiederholt gerne, dass es jetzt an der Zeit sei, endlich zu handeln.
"Ich glaube nicht, dass es einen nächsten 'Big Bang' geben wird, das würde nicht funktionieren", sagt Tefta Kelmendi vom European Council on Foreign Relations. Die sechs Westbalkanländer seien in ihrer Entwicklung und Beitrittsfähigkeit zu unterschiedlich. Es werde eins nach dem andern aufgenommen werden, vermutet sie. Zuerst Albanien, Nordmazedonien und Montenegro. Serbien und Kosovo müssten ihren Streit um Staatlichkeit und Minderheiten beilegen.
Auf jeden Fall könne man nicht warten, bis die bilateralen Konflikte zwischen Serbien und Kosovo gelöst seien. Das hieße die anderen Länder zu Geiseln dieses Konflikts zu machen. "Die Art und Weise, mit der die EU versucht hat, die Erweiterungsperspektive zu nutzen, um bilaterale Probleme zu lösen, hat der Region nicht geholfen. Sie ist zu sehr auf Stabilisierung und nicht so sehr auf die wirtschaftliche Entwicklung fokussiert."
EU-Beitritt der Ukraine: eine große Herausforderung
Verglichen mit den Balkanstaaten wäre die Ukraine wirklich ein "Big Bang" für die Europäische Union. Mehr als 40 Millionen Menschen, ein riesiges Agrarland, das ärmste in Europa, zusätzlich belastet vom Krieg, dem Russland ihm aufgezwungen hat. Beitrittsverhandlungen sollen demnächst mit einer Regierungskonferenz beginnen.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist sich sicher, dass die Ukraine in den europäischen Klub gehört. "Die Ukraine hat ihre europäische Wahl getroffen. Und sie wissen, was das bedeutet. Wir haben unsere ukrainische Wahl getroffen. Genauso wie wir vor vielen Jahren entschieden haben, so viele Staaten in unsere Union heimzuholen", sagte von der Leyen im Europäischen Parlament.
Die Aufnahme der Ukraine in die EU ist genauso unabweisbar wie die Aufnahme der zehn Staaten vor 20 Jahren, meint EU-Experte Hans Kribbe. Das Land wehre sich gegen Russland auch für Europa. "Die Ukraine macht die ganze Arbeit", aber am Ende müssten die Menschen in den alten EU-Staaten überzeugt werden, einer Erweiterung zuzustimmen. Dazu ist Einstimmigkeit unter den dann wahrscheinlich mehr als 30 Staaten nötig. In einigen müssen Referenden abgehalten werden.
Im Moment, so Kribbe, würden die wirklichen Probleme dieser Erweiterung nicht angesprochen, um die Europäer nicht zu verschrecken. "Das ist eine riskante Strategie. Irgendwann wird man sich der Realität stellen müssen." Denn die Ukraine-Aufnahme würde ein totales Umschichten im EU-Haushalt erfordern. Aus heutigen Netto-Empfängern von Zuschüssen und Fonds würden höchstwahrscheinlich Netto-Zahler, darunter wohl Polen und Ungarn.
Nicht aufhören zu träumen
Eine Vorhersage, wann die nächsten Beitritte kommen, sei schwierig, aber man müsse optimistisch bleiben, meint Jerzy Buzek. Der Pole ist Europaabgeordneter seit dem Beitritt seines Landes 2004. Von 1997 bis 2001 war er Regierungschef und bereitete Polens EU-Beitritt mit vor. "Als wir jung waren, schien das nicht reell, aber er (der Beitritt, Anm. d. Red.) wurde zu einer Tatsache. Das heißt, wir sollten träumen und an unseren Träumen hängen", sagte Buzek im Parlament mit Blick auf die nächsten Beitrittskandidaten.
Die Türkei, die seit 2005 mit der EU über eine Aufnahme verhandelt, werde wahrscheinlich nicht beitreten. Der autokratisch geführte Staat entfernt sich immer weiter von europäischen Werten, meint EU-Experte Krippe: "Das ist ein hoffnungsloser Fall, wenn es um den Beitritt geht." Trotzdem sollte die EU enge, bilaterale Beziehungen, eine privilegierte Partnerschaft anstreben, weil die Türkei eine geopolitische Schlüsselstellung innehabe, wenn es um die Abwehr Russlands und um Migrationsfragen gehe.