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Übereifer und Vertuschung

Bernd Gräßler14. Oktober 2008

Die nationalen Unterschiede bei der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit Osteuropas und Deutschlands sind beträchtlich: Sie reichen von deutscher Gründlichkeit bis zu russischer Geheimniskrämerei.

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Hammer-und-Sichel-Symbol in Kaliningrad
Zeichen vergangener ZeitenBild: Transit Archiv

Die Leipziger Nikolaikirche war bis auf den letzten Platz besetzt, als Außenminister Frank-Walter Steinmeier in diesem Jahr die traditionelle "Rede zur Demokratie" hielt. Der Außenpolitiker fand einen klugen Vergleich, um seinen Respekt vor den mutigen Demonstranten des Jahres 1989 auszudrücken: Wer am 9. Oktober in Leipzig sei, der spüre, dass die Unterzeichnung eines Vertrages wenig sei gegen die Kraft einer friedlichen Revolution. "Der 9. Oktober in Leipzig steht für die friedliche Revolution", meinte Steinmeier. "Er ist die Wendemarke, an der sich entschieden hat, dass mutiger Bürgersinn eine Gesellschaft, ein Land, ja eine ganze Ordnung verändern kann."

(AP Photo/Franka Bruns)
Steinmeier: Mutiger Bürgersinn kann ein Land verändernBild: AP

Zur friedlichen Revolution in der DDR hätten allerdings auch die Demokratiebewegungen in den anderen früheren Ostblockstaaten beigetragen, betonte Steinmeier. Diesen Zusatz registrierten die in Leipzig versammelten Historiker aus Polen, Ungarn und Russland vermutlich mit Freude. Auf einem Symposium diskutierten sie mit deutschen Kollegen, früheren Bürgerrechtlern und Leipziger Bürgern über die einstigen kommunistischen Diktaturen in Mittel- und Osteuropa.

Ursache und Wirkung

Bei dieser Gelegenheit beschwerte sich ein polnischer Geschichtsprofessor über die Frage eines deutschen Journalisten, welche Bedeutung der Mauerfall für Polen habe. Da sei doch wohl Ursache und Wirkung etwas aus dem Blick geraten, bemerkte der Mann aus Warschau und erinnerte an die polnische "Solidarnosc", den Vorreiter der osteuropäischen Demokratiebewegung.

Foto: Maciej Sochor +++(c) dpa - Report+++
Solidarnosc-Demonstration am 18. Oktober 1980 mit Gewerkschaftsführer Lech Walesa (Archiv)Bild: picture-alliance/ dpa/dpaweb

Wenn auch die Nachbarn eher auf den Straßen waren: bei der Aufarbeitung der Geschichte glänzten die Deutschen wieder durch Gründlichkeit, meinte Alexander Vatlin, Geschichtsprofessor der Moskauer Lomonossow-Universität. DDR-Forschung sei bei seinen Studenten sehr beliebt, von dem freien Zugang zu Quellen und Archiven könne man in Russland nur träumen. "Sie kommen an frühere DDR-Archive viel besser heran als an sowjetische Archive, Parteiarchive und so weiter." Alle Dokumente aus der sowjetischen Zeit auf höchster Staatsebene seien geheim gewesen, und eine automatische Freigabe für Forschungszwecke finde nicht statt. Jedes einzelne Dokument werde von entsprechenden Behörden angesehen und freigegeben. "Stellen Sie sich vor", sagte Vatlin, "wie viele Millionen von Akten sind das. Das ist einfach die Arbeit für Jahrhunderte."

Vatlin lehrt in Moskau Geschichte der DDR und stützt sich dabei zumeist auf die in Deutschland erarbeitete wissenschaftliche Literatur. Abgesehen von bürokratischen Hürden gibt es aber laut Vatlin auch andere wichtige Unterschiede bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit: "So, wie die Geschichte der DDR verarbeitet und auch verurteilt wird, ist das bei uns nicht. Das wird im Großen und Ganzen als unsere Geschichte angesehen, und wenn ich mit meinen Studenten spreche, sind die gerade von der Größe der Sowjetunion fasziniert: 'Wir waren etwas, wir waren eine Weltmacht, wir waren im Weltall und so weiter.'" Der Niedergang der Weltmacht werde bedauert, und das habe Folgen für das demokratische Bewusstsein in Russland. Dort wünschten sich laut Umfragen noch heute über 50 Prozent der Menschen einen Führer vom Schlage Stalins.

Gegenwärtige Interessen überlagern Vergangenheitsbewältigung

Anders als in Russland habe in Ungarn die Aufarbeitung kommunistischer Repression bereits vor 1989 begonnen und in den 90er Jahren eine große Rolle gespielt, sagte Andreas Schmidt-Schweizer, Historiker aus Budapest. Es habe allerdings lediglich drei Verurteilungen vor Gericht gegeben: Alle drei betrafen Verantwortliche für Schüsse auf Demonstranten beim Volksaufstand 1956. Derzeit seien die Menschen aber mehr mit der katastrophalen sozialen Lage in ihrem Land beschäftigt. Und die Regierung habe möglicherweise kein großes Interesse an öffentlicher Vergangenheitsbewältigung, weil sie ein schönes Bild von Ungarn vermitteln wolle. Das hänge vielleicht auch damit zusammen, dass man auf westliche Gelder angewiesen sei und Investoren ins Land locken wolle.

Aufarbeitung zu unterlassen sei der Normalfall, weil zu viele Menschen in die Systeme verstrickt gewesen seien, sagte die Hamburger Historikerin Doris Wierling. Es bedürfe entweder des Drucks von außen oder eines Generationenwechsels.

Nicht nur mit Vertuschung, sondern auch mit besonders intensiver Beschäftigung mit Vergangenheit könne man versuchen, ein schöneres Bild von sich zu zeichnen, bemerkte der Berliner Historiker Jörg Baberowski: "Es ist eben auch eine Art des Sich-Gut-Fühlens, wenn Deutsche das ständig machen und sich dabei als Mitglieder einer ganz besonderen nationalen Gemeinschaft erkennen, nämlich einer, die das kann, die das gelernt hat."

Auf diese These kam kein Widerspruch von den Kollegen, eher amüsiertes Lächeln. Der polnische Historiker Piotr Madajczyk berichtete, in Polen ende der Geschichtsunterricht an den Schulen oft mit dem Zweiten Weltkrieg, die Zeit danach werde nicht mehr behandelt - vorgeblich aus Zeitgründen. Das kam wiederum auch den Deutschen bekannt vor. Hier hatte eine Umfrage unter Schülern jüngst äußerst spärliche Kenntnisse über die DDR zutage gefördert.