Wie die Spanier den Chaimas in Venezuela ihre Kultur raubten
15. März 2010Es ist ein heilloses Durcheinander am Esstisch der Familie Caripe. Unter Lachen und Geschrei stellen Vater Luis und Mutter Reina ihre neun Kinder vor. Die älteste, Zuleyma, ist 32 Jahre alt, die jüngste, Eilin, zehn. Zwei der Töchter haben ihre Ehemänner mitgebracht. 60 Minuten sind sie vom nächstgelegenen Städtchen Caripe zu dem aus Holzbrettern und Ziegeln gezimmerten Häuschen hoch oben in den Bergen im Nordwesten Venezuelas gefahren. Im Jeep. Ein normales Auto gäbe auf der Schotterpiste schnell seinen Geist auf. Die Familie wird bei den Chaimas groß geschrieben. Chaimas?
Luis Caripe zieht einen Ausweis aus dem Portemonnaie. "Venezolanisch" steht am unteren Rand der weißen Karte zwischen Passfoto und Fingerabdruck vermerkt. Und gleich darüber: "Mitglied des indianischen Volkes der Chaima". Der 59-jährige Luis und seine Familie gehören zu einem von mehr als 30 indigenen Völkern Venezuelas. Ihre Vorfahren, die Kariben, eroberten einst vom Dschungel Brasiliens aus Venezuela und die Inseln des Karibischen Meeres, das seitdem ihren Namen trägt. Wie alle Chaimas ist Luis eher klein. Gerade mal 1,60 Meter misst er. Und auch seine indianisch anmutenden Gesichtszüge verraten die Herkunft.
Verlust der eigenen Identität
Venezuela feiert im Juli kommenden Jahres die Unabhängigkeit, errungen nach einem langen und blutigen Kampf gegen die spanische Krone. Aus Sicht aller Venezolaner ein Anlass zum Feiern. In die Freude von Luis Caripe mischt sich aber ein bitterer Beigeschmack. "Wir haben mit der Eroberung durch die Spanier einen Teil unserer Identität verloren. Und die entdecken wir gerade erst wieder", sagt Luis. 200 Jahre nach der Unabhängigkeit.
Die spanischen Eroberer steckten die Chaimas nach der Konquista in die Missionen des Kapuziner-Ordens. Die Mönche behandelten ihre indianischen Zöglinge menschlich, aber wie Kinder, und beraubten sie so ihrer Kultur.
"Als Alexander von Humboldt 1799 in Venezuela seine Südamerika-Reise antrat, sprachen die Chaimas noch ihre Sprache", erzählt Luis. Der preußische Weltenbummler fand sogar die Zeit, ein kleines Wörterbuch mit Chaima-Vokabeln zu verfassen. Das haben die Indios Humboldt nie vergessen. Sie halten ihn bis heute in Ehren. Luis versteht die Sprache seiner Vorfahren nicht. Anders sein Nachwuchs.
Chaimas sprechen wieder Chaima
"Unsere Kinder singen die Nationalhymne in ihrer indigenen Sprache“", sagt Angel Vargas stolz. "An 26 Schulen in den Bundesstaaten Sucre und Monagas unterrichten wir wieder Chaima." Vargas, selbst Chaima, soll die Belange der indigenen Minderheiten in der Region Sucre an der Karibikküste verteidigen. Sein Büro ist winzig und karg eingerichet, doch schon dass sein Amt existiert, ist ein Fortschritt.
Der linkspopulistische Präsident Hugo Chávez hat sich die Förderung der indigenen Kultur auf die Fahnen geschrieben. Viel Geld rückt seine Regierung nicht heraus, aber immerhin hat sie die Rechte der Indígenas in der Verfassung verankert und die indigenen Sprachen dem Spanischen rechtlich gleichgestellt.
Ohnmacht in der Vergangenheit, Optimismus für die Zukunft
Der Lebensstandard der Caripes hat sich in der zehnjährigen Amtszeit Chávez kaum gebessert. Luis lebt vom Kaffee-Anbau. "Hundert Prozent Natur, keine Schadstoffe", sagt er. Die Preise sind in den letzten Jahre beständig gesunken. Und doch fühlen sich Luis und Reina unter Chávez wohl. Tochter Zuleyma hat Umwelttechnik an der staatlichen Universidad Bolivariana studiert. Ihr Mann, auch ein Chaima, hat ebenfalls einen Uni-Abschluss in der Tasche.
Luis Caripe und seine Familie erlebten in der Vergangenheit viel Unrecht. Sein Vater verschwand Mitte der 60er Jahre spurlos. Die Regierungsarmee machte in den Bergen Jagd auf mutmaßliche Links-Guerrilleros. Auch unschuldige Zivilisten kamen ums Leben. Diese Art von Willkür gehört nun hoffentlich der Vergangenheit an.
Autor: Thomas Wagner
Redaktion: Oliver Pieper